Von der Epidemie der Einsamkeit
Ein öffentliches Gesundheitsproblem?
Gemäß einer deutschen Langzeitstudie steigt das Einsamkeitserleben. Im Jahr 2017 beispielsweise bezeichneten sich bei den 45- bis 84-Jährigen, verglichen mit 2011, 15 Prozent mehr als einsam.1 Forscher sagen für die Zukunft weiterhin steigende Zahlen von einsamen Menschen voraus, sodass der Begriff der Epidemie immer häufiger fällt.
Was bedeutet diese düstere Vorhersage für die Gesundheitspolitik? Wie gehen Gesundheitsbehörden üblicherweise mit Epidemien um? Neben Vorschriften zur Desinfektion und zur Isolierung von infizierten Personen, um die Verbreitung des Virus einzuschränken, versuchen Wissenschaftler, so schnell wie möglich den Virus zu identifizieren und spezifische Impfstoffe zu entwickeln. Ist dieser medizinische Vergleich überhaupt hilfreich im Umgang mit einem zutiefst menschlichen emotionalen Erleben? Zumindest ist die Sprache der Medizin der Öffentlichkeit vertrauter als die Sprache der Emotionen und schafft somit leichter Bewusstsein.
In verschiedenen Ländern wird Einsamkeit als gesellschaftliches Gesundheitsproblem anerkannt, was Regierungen veranlasst hat, Initiativen gegen Einsamkeit zu gründen. In Großbritannien gibt es sogar ein Ministerium für Einsamkeit mit etlichen Angeboten: Vereinsamte Menschen können beispielsweise eine Telefonhotline anrufen oder bekommen Besuch von einem professionellenCommunity Connector, der versucht, sie in der Gemeinde zu vernetzen. In den Niederlanden bringen Mitglieder von Initiativen vereinsamten Menschen einen Blumenstrauß vorbei oder laden sie zu Nachbarschaftstreffen ein. In Japan, Dänemark und Australien entstanden ähnliche Initiativen und auch in Deutschland werden von der Politik erste Anstrengungen unternommen: Mehr Geld soll in den Aufbau von Mehrgenerationenhäusern investiert werden, zudem werden Städte und Stadtviertel so konzipiert, dass soziale Interaktion erleichtert wird.
All diese Initiativen schaffen öffentliches Bewusstsein für Einsamkeit. Das kann helfen, dass Menschen, die nicht unter Einsamkeit leiden, empathischer werden denjenigen gegenüber, die sie als einsam wahrnehmen, und verstärkt mit ihnen in Kontakt treten. Öffentliche Kampagnen helfen oft auch, das Gefühl der Scham und Stigmatisierung zu reduzieren, sodass es Betroffenen leichter fällt, Hilfsangebote wahrzunehmen.
Bei Einsamkeit, die nicht schambesetzt ist und bei der der Betroffene grundsätzlich anderen vertraut, mögen viele dieser Initiativen helfen. Solcherart vereinsamte Menschen finden wieder Anschluss, blühen durch die Kontakte auf und bekommen Lebensqualität zurück. Auch sind viele Initiativen bewusst auf ältere Menschen ausgerichtet, die grundsätzlich soziale Kompetenzen haben und sich für die Einsamkeit weniger schämen als jüngere Menschen. Ihr Lebensabschnitt bringt oft zwangsläufig den Verlust von Mitmenschen und zunehmende Hilfsbedürftigkeit mit sich.
Es ist noch zu früh, um klare Aussagen darüber zu machen, welche Wirkung diese Initiativen auf das Einsamkeitserleben haben. Erste Studien zeigen, dass sie zumindest die Personen, die sich für ihre Einsamkeit schämen, die misstrauisch sind und wenig soziale Kompetenzen haben, nicht erreichen, da diese ihr Bedürfnis nach Kontakt und Nähe nicht gerne mitteilen. Die Wirksamkeit folgender Ansätze wurde in einer Studie verglichen.
- soziale Kompetenzen stärken.
- soziale Unterstützung verbessern.
- mehr Möglichkeiten für soziale Kontakte schaffen und.
- wenig hilfreiche Einstellungen über soziale Kontakte verändern.
Gemäß den Autoren war die Intervention, die nur auf die Veränderung der inneren Einstellung in Bezug auf Kontakte abzielte, am effektivsten.2 Für die Behandlung einer komplexen Einsamkeit, die mit Scham, Misstrauen, negativen Einstellungen in Bezug auf soziale Kontakte und möglicherweise eingeschränkten sozialen Kompetenzen einhergeht, bedarf es eines umfassenderen Ansatzes. Bevor diese Gruppe von Betroffenen Vernetzungsangebote nutzen kann, erscheint eine emotionale Arbeit sinnvoll, um die inneren Hürden zu überwinden. Zudem profitieren junge Erwachsene und solche im mittleren Lebensalter nur eingeschränkt von praktischen Initiativen, die sich vorwiegend auf ältere Menschen ausrichten: Die 35-Jährige, die sich nach einer Beziehung und Kindern sehnt und sich unter ihren verheirateten Freunden immer einsamer fühlt, benötigt eine Unterstützung, die ihrer Lebensphase entspricht und die ihr hilft, mit diesen nachvollziehbaren Gefühlen weise umzugehen.
Geschärftes Gesundheitsbewusstsein
Um zur Sprache der Medizin zurückzukommen: Es gibt also keinen »Impfstoff«, der uns vor dem Schmerz zu schützen vermag, denn vor Einsamkeit