: Odette Joyeux
: Delphine über den Dächern Ein Ballettroman aus Paris
: Insel Verlag
: 9783458765875
: 1
: CHF 14.00
:
: Theater, Ballett
: German
: 255
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

»Bei e wollen die Hauptrolle. Doch nur eine wird sie bekommen ...«

Die verträumte Delphine wächst bei ihrer verwitweten Mutter auf, die viele Opfer bringt, damit ihre Tochter Ballett tanzen darf. Ganz anders Julie: Die Tochter aus reichem Hause ist verzärtelt, stets von sich überzeugt und Liebling ihrer Lehrerin. Beide besuchen die Ballettklasse der Pariser Opera Garnier und bekommen die Chance, an der Seite des umschwärmten Solisten Ivan Barlof die Galatea zu tanzen. Als Delphine die Rolle ergattert und Julie nur zweite Besetzung wird, sinnt sie auf Rache und stellt der arglosen Delphine eine Falle, die alles verändern wird ...

Seit Generationen lieben Mädchen und ihre Mütter die Geschichte der kleinen Pariser Elevin Delphine und ihrer Widersacherin Julie. Die Autorin - einst selber Ballettschülerin an der Opera Garnier - gewährt einen realistischen Einblick in die häufig romantisierte, in Wahrheit recht unbarmherzige Welt des klassischen Balletts. Und berührt gleichsam die universellen Themen an der Schwelle zum Erwachsenwerden: Leistungsdruck, Versagensangst, das wechselhafte Gefühl zum eigenen Körper oder der Wunsch, sich zu behaupten.

Das wahrscheinlich schönste Ballettbuch aller Zeiten - endlich neu aufgelegt! Illustriert von Leanne Shapton.



<p>Odette Joyeux, geboren 1914 in Paris, machte nach ihrer Ausbildung zur Tänzerin als Schauspielerin Karriere und wurde schließlich auch als Drehbuchautorin und Schriftstellerin sehr erfolgreich. Die französische Romanvorlage für<em>Delphine über den Dächern</em> wurde verfilmt und lief unter dem Titel<em>Die verbotene Tür</em> auch erfolgreich im deutschen Fernsehen. Odette Joyeux starb im Jahr 2000 in Ollioules, Frankreich.</p>

Als Delphine im Bett lag, war sie hellwach.

Wie ein Film rollte das Geschehen des Abends immer wieder ab. Es hatte seinen dramatischen Höhepunkt, als Bernadette an ihr vorbei auf das Dach stürzte. Und sein tragisches Ende waren die drohenden Rufe Dumontiers, die Unheil verhießen.

Immer wieder kam sie auch auf den Punkt, da sie mit Bernadette vor der verschlossenen,verbotenen Tür stand und nicht ins Haus zurückkonnte.

Wer hatte den Schlüssel umgedreht? Eines der Mädchen oder ein Feuerwehrmann, der die Tür offen gefunden und pflichtgemäß verschlossen hatte? War es Zufall oder Absicht? Hatte jemand nur aus Gedankenlosigkeit die Tür abgesperrt, oder war da jemand, der verhindern wollte, dass sie rechtzeitig auf die Bühne kam?

Zu viele Fragen für ein Mädchen, das niemanden hatte, mit dem es darüber sprechen konnte. Von dem alle erwarteten, dass es eine große Tänzerin würde. Und das so jämmerlich versagt hatte, weil es einmal herumtollen wollte wie andere Gleichaltrige auch?

Und je länger sie nicht einschlafen konnte, und je mehr sie sich im Bett hin und her wälzte, umso höher wurde der Sturz Bernadettes, die jetzt plötzlich einen grässlichen, langgezogenen Schrei ausstieß, wenn sie fiel. Musik klang auf, als die Träger mit der Bahre kamen, ein langsamer, getragener Marsch, genauer gesagt, ein Trauermarsch. Und sah man ganz genau hin, konnte man auch feststellen, dass die Bahre ein Sarg war. Junge Männer des Balletts trugen ihn, mit gesenkten Häuptern, und plötzlich war Dumontier da, wies mit dem Finger auf sie und sang mit tiefer Bassstimme: »Sie ist's gewesen! Sie ist's gewesen!« Und Delphine stand da, in einem abgerissenen Trikot, das kaum ihre Blöße bedeckte, und wunderte sich, wieso Dumontier plötzlich ein orientalisches Kostüm trug. Wie Osmin in Mozarts Entführung aus dem Serail.

Sie schreckte auf und überdachte von neuem die Geschichte. Und wieder stürzte Bernadette, und wieder war Dumontier da, der die schwersten Beschuldigungen gegen sie erhob und die ärgsten Drohungen ausstieß, und plötzlich begann Dumontier zu zerfließen, wurde nebelhaft, und seine Stimme verhallte, sie atmete leichter und wachte auf. Gott sei Dank, die ganze Geschichte war nur ein Traum! Und sie freute sich, und ihre Mutter war viel jünger als in Wirklichkeit und nähte ein Kostüm für sie, aber als sie das Kostüm überstreifte, steckten noch viele Nadeln in ihm. Da wachte sie auf und wusste, dass die böse Geschichte leider kein Traum war.

Erst gegen Morgen schlief sie ein wenig. Leicht nur, denn sie hörte die Geräusche von der Straße herauf, die Autos, die Schritte der Leute, die schon sehr früh zur Arbeit mussten. Irgendjemand, der wahrscheinlich mit dem Rad fuhr, pfiff einen Schlager. Die Riesenstadt erwachte.

Sie musste noch einmal eingeschlafen sein, denn als sie wieder aufwachte, saß Mama an ihrem Bett und fragte, warum sie so gewimmert habe.

»Wer hat gewimmert?«, fragte sie zurück, um Zeit zu gewinnen.

»Du hast gewimmert.«

»Ich?«, fragte sie gedehnt.

»Gerade jetzt. Es klang ganz jämmerlich.«

»Da habe ich wohl schlecht geträumt.«

Therese erhob sich und schob die Vorhänge zur Seite.

»Es wird ein wunderschöner Tag heute«, sagte sie. »Wenn es so bleibt, kann ich vielleicht schon ein bisschen ausgehen und dich abholen.«

Da war wieder das Bedrohliche, das Unheil. Als Mutter mit hohem Fieber im Bett lag, hatte Delphine gewünscht, sie möge bald gesund werden. Jetzt wünschte sie, ihre Mutter läge noch im Bett, und sie müsse nichts fürchten. Nie mehr würde sie mit ihrer Mutter so in Einklang leben, wie es bis gestern Abend gewesen war. Da war noch nichts zwischen ihnen, keine Unaufrichtigkeit und keine Lüge. Und jetzt musste sie besorgt tun, als ginge es ihr um Mamas Gesundheit, obwohl sie nur daran dachte, dass Mutter von der ganzen furchtbaren Geschichte nichts erfahren dürfe.

»Jetzt war ich zehn Tage nicht draußen«, sagte Therese. »Ich habe richtig Hunger nach frischer Luft.«

»Ein bisschen spazieren gehen kannst du ja, aber du musst nicht gleich durch halb Paris.«

»Zehn Tage nicht draußen«, wiederholte Therese. »Du und Frederic, ihr wart die Einzigen, die die Verbindung zur Außenwelt herstellten. Es ist schon gut, dass wir Frederic haben.«

»Ohne ihn wäre es auch gegangen«, erwiderte Delphine.

Da war es wieder. Therese schalt sich selbst, aber sie hatte eine unerklärliche Angst davor, einmal offen mit Delphine über Frederic zu sprechen. Und Frederic hatte so lange gebraucht, bis er endlich einmal den Mut fand, ihr zu sagen, er möchte sie gerne heiraten. Jetzt war es schwierig. Zumindest schwieriger als vor einigen Jahren. Oder bildete sie sich das nur ein? Vor drei, vier Jahren wäre es viel leichter gewesen, neu anzufangen, zumal Delphine überhaupt keine Erinnerung an ihren Vater hatte. Inzwischen hatte sie sich an Frederic als einen zwar guten Freund, aber als einen Außenstehenden gewöhnt. Und die Äußerung Delphines, ohne ihn wäre es auch gegangen, zeigte ihr von neuem, wie wenig dankbar Delphine für all die Gefälligkeiten war, die Frederic ihnen beiden ständig erwies.

»Frederic hat sehr viel für uns getan«, sagte sie deshalb, als sie Delphine die Schokolade in die Tasse goss.

Delphine fand den Geruch nach der schlechten Nacht abscheulich, und außerdem wollte sie Frederic im Augenblick so weit wie möglich weghaben. Möglichst auf einer Konzertreise rund um die Welt. »Ach«, sagte sie trotzig, »immer wieder Frederic!«

»Du weißt nicht, wie schwierig es für eine Frau ist, sich mit einem Kind allein durchs Leben zu schlagen. Und ich bin leider keine allzu tüchtige Frau. Wenn Frederic mir manchmal nicht geholfen hätte, ich wüsste nicht, wie ich all das Geld aufgebracht hätte. Allein deine Ausbildung …«

Delphine mochte das nicht hören. Sonst nicht, und schon gar nicht heute.

»Ach, der will dich doch bloß heiraten«, sagte sie patzig. »Da sind Männer immer furchtbar nett. Nachher sind sie ganz anders.«

An einem anderen Tag hätte Therese über die Altklugheit ihrer Tochter gelächelt, aber heute war sie ohnehin unsicher. Das verpatzte festliche Essen und das Ausbleiben Frederics am gestrigen Abend hatte sie auch nicht allzu gut schlafen lassen. Zumal sie erkannte, dass die Rolle der Galatea, die Delphine übertragen worden war, sie nicht darüber hinwegtröstete. Das hieß doch, dass ihr nicht nur das Glück der Tochter am Herzen lag, sondern ihr eigenes auch noch. Und sie hatte sich bisher für selbstloser gehalten.

»Ich kann nicht dulden, dass du Frederic mit anderen Männern vergleichst«, sagte sie daher und machte sich weiter stumme Vorwürfe. War es nicht überhaupt vermessen von ihr, von Delphine zu erwarten, dass sie all das erreichte, was ihr persönlich danebengeraten war? Hatte sie wirklich immer das Beste für ihre Tochter gewollt, wenn sie das Kind in die Rolle einer Balletttänzerin hineinzwang? War es nicht zu viel für das Mädchen, das sich mitten im Wachstum befand, ihm neben dem normalen Schulunterricht noch den Ballettunterricht, die Proben und das abendliche Auftreten zuzumuten? Konnte das wirklich einen jungen Menschen glücklich machen? Und jetzt kamen noch die Proben für die Hauptrolle dazu. Und Delphine hatte seit den Ferien ohnehin schon Gewicht verloren. Und hatte sie schon ein einziges Mal gesagt, dass sie ihre Tochter dafür bewunderte?

»Kind, iss doch noch ein bisschen«, sagte sie daher, als Delphine aufspringen und gehen wollte. »Du siehst gar nicht gut aus, und ich mache mir Vorwürfe, vielleicht verlange ich zu viel von dir. Kannst du wirklich das alles schaffen? Du verstehst, ich möchte nicht, dass du mir einmal vorwirfst, ich hätte dir deine Kindheit und Jugend zerstört.«

Delphine bekam wieder das schmerzhafte Ziehen in der Brust. Sie konnte gar nicht richtig atmen. Gerade heute, da ihr noch allerhand bevorstand, sagte Mutter so etwas.

»Ach, lass das doch«, sagte sie daher beinahe ein wenig grob, um nicht zu heulen. »Du reimst dir immer alles Mögliche zusammen. Du weißt ja nicht, welche Riesenportionen ich zu Mittag in der Kantine verdrücke.«

Therese schüttelte die Gedanken ab. »Draußen neben deinen Sachen liegt ein Umschlag ...