: Anette Dowideit
: Die Angezählten Wenn wir von unserer Arbeit nicht mehr leben können
: Campus Verlag
: 9783593442051
: 1
: CHF 14.50
:
: Gesellschaft
: German
: 244
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Billig und konsumfreundlich muss es sein, nur nicht drüber nachdenken, lautet die Devise. Gewerkschaften gelten als unsexy, faire Bezahlung ist für viele kein Thema. Aber wieso darf Arbeit nichts kosten? Und wer ist eigentlich noch Mittelschicht? Neben wenigen Spitzenverdienern gibt es immer mehr Menschen, deren Einkommen nicht zum Leben reicht. Ehemals angesehene Berufe rutschen in Richtung Prekariat ab: Pilot, Stewardess, Lehrer, Krankenschwester. Investigativ-Autorin Anette Dowideit nimmt verschiedene Branchen und Berufe unter die Lupe und zeigt: Den Preis für die Billigflüge, die wir buchen und die Pakete, die wir hin- und herschicken, zahlen wir am Ende alle. Wir brauchen faire Regeln am Arbeitsmarkt, denn Arbeit hält unsere Gesellschaft zusammen. Hören wir auf, am eigenen Ast zu sägen!

Anette Dowideit ist Diplom-Volkswirtin, Absolventin der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft, Autorin mehrerer Bücher, regelmäßiger Gast in Talkshows. Sie arbeitet als Chefreporterin bei der Zeitungsgruppe »Die Welt«. Nach vier Jahren als Korrespondentin in New York ist sie seit 2011 Mitglied des Investigativteams. Für ihre Recherchen kooperiert sie mit Fernsehredaktionen wie Frontal 21 oder dem Rechercheteam des Bayerischen Rundfunks - und steht dabei auch selbst vor der Kamera.
Drei, zwei, eins ... arm Marco Witterling hat oft Ohrensausen. Er war deshalb schon häufiger beim Arzt, doch der konnte nichts finden. Witterling ist verheiratet, Vater eines kleinen Mädchens, und er hat vor ein paar Jahren eine Eigentumswohnung in einer Kleinstadt gekauft, für die er nun die Schulden abbezahlen muss. Nachts kann er oft nicht gut schlafen. Dabei arbeitet Witterling in einem Beruf, der früher mal ein Traumjob war. Pilot. Für viele seiner Kollegen ist der Beruf wahrscheinlich immer noch die Erfüllung ihres Kleinjungentraums. Bloß eben nicht für Witterling - und wohl auch für so einige Kollegen nicht. Der Enddreißiger, der eigentlich anders heißt, fliegt für Ryanair. Eine Airline, mit der wahrscheinlich die meisten von uns schon mindestens einmal in den Urlaub oder zu einem Städtetrip gereist sind. Wo sonst sind die Flüge so billig zu haben, dass sich eine Familie mit Kindern eine solche Ferienreise überhaupt leisten kann? Oder ein Student mal eben nach Barcelona kommt? Ryanair spielt seit Jahren eine Rolle in den Medien, nämlich die des schlimmsten aller Arbeitgeber der Lüfte. Für viele der Piloten, die in Deutschland und anderswo in Europa für die Fluggesellschaft die Maschinen lenken, dachte der Konzern sich ein besonderes Anstellungsmodell aus - oder besser gesagt: ein Nicht-Anstellungsmodell. Neue Ryanair-Piloten mussten Ich-AGs gründen. Als Selbstständige, die tageweise gebucht wurden und Rechnungen an ihren Auftraggeber schreiben, trugen sie fortan selbst das wirtschaftliche Risiko. Zum Beispiel jenes, krank zu werden und kein Geld mehr zu verdienen. Und dann etwa die Hypotheken für die Eigentumswohnung nicht mehr zahlen zu können. Fällt ein Pilot auf diese Weise aus, muss Ryanair ihn nicht bezahlen - er ist ja nicht geflogen. Auch für die Altersvorsorge zahlt der Flugkonzern durch dieses Modell nicht mit. Und er wird die Piloten viel leichter los, sollte einmal Flaute bei den Buchungen herrschen. Ryanair kam bisher problemlos damit durch. Und das, obwohl die Piloten die Uniformen der Airline trugen, immer nur für diesen einen Auftraggeber tätig waren und ständig auf Abruf sein mussten. Oder, wie Gewerkschafter und Arbeitsrechtler sagen: scheinselbstständig waren. Erst seit kurzem regt sich europaweit Widerstand von Pilotengewerkschaften. Jahrelang ging es Ryanair gut. Die Gewinne stiegen, die Passagierzahlen legten zu, weil die Flüge so schön billig waren: quer durch Europa für 25 Euro, innerdeutsche Flüge gibt es teilweise für fünf Euro. Für die Mitarbeiter in den Cockpits dagegen - die immerhin für die Sicherheit und das Leben der Passagiere mitverantwortlich sind - geht diese Rechnung weitaus weniger glatt auf. Witterling wirkt im Gespräch leicht fahrig. Man merkt ihm die Belastung an. Den Schichtdienst, den Stress. Er sagt, in den vergangenen Jahren habe es immer mal wieder Momente gegeben, in denen es ihm bei der Arbeit unheimlich wurde. Einer davon kam an einem feuchtkalten Wintertag. Damals saß er mit dickem Kopf, kratzendem Hals und zugeschwollener Nase im Cockpit. Er hatte sich zum Dienst geschleppt. Dabei sei vollkommen klar gewesen, dass er eigentlich ins Bett gehört hätte. Mitten auf dem Flug dann, über den Wolken, passierte es: Sein Kopf begann zu pulsieren. Es wurde ihm derart schwindelig, beinahe schwarz vor Augen, dass er den Flieger vielleicht nicht mehr alleine hätte landen können. »Ohne den Co-Piloten, der dann die Kontrolle übernommen hat, hätte ich es an diesem Tag nicht geschafft«, sagt er. »Wer weiß, was hätte passieren können?« Ein Pilot, der krank zur Arbeit erscheint, weil er sonst nicht mit seinem Geld über die Runden kommt - wie kann so etwas sein, in Deutschland im Jahr 2019? Die Antwort auf diese Frage geht weit über Ryanair und den Beruf des Piloten hinaus: Arbeit ist an vielen Stellen nicht mehr viel wert. Das ist ein Problem - und kein kleines, sondern eines d