Einleitung: Wer sind die Benediktiner?
Benediktiner sind nicht vergessen. Anders als manche anderen religiösen Gemeinschaften sind sie auch dort noch im öffentlichen Bewusstsein präsent, wo christliche Prägungen verblassen. Man kennt sie als «schwarze Mönche», man bestaunt ihre prächtigen Abteien, vielleicht hat man schon einmal von Benediktinern gebrautes Bier getrunken oder sogar eine ihrer Schulen besucht. Den spirituell Interessierten mögen die aktuellen Bücher von Pater Anselm Grün ansprechen – benediktinische Bestseller. In diesen und in vielen weiteren Aktivitäten unterscheiden sich heutige Benediktiner kaum von denen vergangener Jahrhunderte: Ihre Klöster besaßen und besitzen neben der genuin religiösen eine soziale, eine wirtschaftliche, eine kulturelle und nicht zuletzt eine politische Dimension, auch wenn letztere in der Gegenwart stark geschwunden ist.
Benediktiner gehören wie viele andere religiöse Gemeinschaften zur großen Gruppe der Religiosen – Frauen und Männern, deren zentrales Lebensmotiv die Gottsuche ist. Dabei orientieren sie sich in besonderer Weise an der für das Christentum insgesamt prägenden Unterscheidung zwischen den für alle geltenden Geboten und den darüber hinausgehenden «evangelischen Räten», denconsilia evangelica von Armut, Keuschheit und Gehorsam (Mt 19,12.21.26). Nach diesen zu leben hieß und heißt, den Weg zur Vollkommenheit zu beschreiten, wobei jedoch stets unbestimmt bleibt, wie arm, wie keusch oder wie gehorsam man zu sein hat, um tatsächlich den Lehren Christi und damit ihm zu folgen. Religiose – egal ob sie allein leben oder in Gemeinschaft – sehen sich dabei als Vertreter einer Lebensform permanenten Strebens nach dem in sich unbestimmten ‹Mehr›, das den Unterschied des Angeratenen vom bloß Gebotenen herausstellt. Aus diesem ‹Mehr› begründeten sich seit jeher die asketischen Praktiken jener Frauen und Männer ebenso wie ihr Elitebewusstsein. Zu diesem Leben gehört aber auch, sich stets der Grenze bewusst zu sein, die zwischen dieser irdischen Welt und jener göttlichen Sphäre – der Heimstatt des künftigen, des ewigen Lebens – besteht. Weil sie den Weg der Vollkommenheit beschreiten, dürfen Religiose nicht den Dingen und Praktiken dieser irdischen und vergänglichen Welt anhängen – als sterbliche Menschen wissen sie jedoch auch, dass sie in ihr bis zu einem von Gott gesetzten Zeitpunkt auszuharren haben. Um dieser doppelten Herausforderung zu genügen, haben sie ihre Kirchen und Klöster als Orte konzipiert, wo Diesseits und Jenseits sich berühren. Religiose leben gleichsam auf der Grenze beider Welten. Diese Grenze bereits während des irdischen Lebens in Richtung des Himmels zu verlassen, muss ihnen verwehrt bleiben. Sie jedoch in Richtung der Welt zu überschreiten, würde zwangsläufig ein Scheitern bedeuten. Wenn Benediktinern das Schicksal erspart blieb, vergessen zu werden, dann auch deshalb, weil es ihnen über die Jahrhunderte gelungen ist, jene Spannung zwischen Diesseits und Jenseits zu halten. Dies ist keine Selbstverständlichkeit: Nicht wenige religiöse Gemeinschaften, die einmal weite Verbreitung gefunden haben, bestehen nicht mehr, geschweige denn, dass man sich ihrer erinnert.
Doch auch wenn Benediktiner nicht vergessen sind, bleibt die Frage, wer denn mit dieser Bezeichnung überhaupt angesprochen wird. In einem engeren Sinne ist die Antwort leicht zu geben: all jene Frauen und Männer, die einer derjenigen Gemeinschaften angehören, die in der Benediktinischen Konföderation verbunden sind (siehe S. 121). Allerdings gibt es diese erst seit 1893. Deren Geschichte zu schreiben, wäre verdienstvoll, bliebe aber doch nur ein Torso. Denn vieles von dem, wofür Benediktinerinnen und Benediktiner heute stehen, würde fehlen: In dieser Geschichte kämen die großen Abteien nicht vor, kaum die ehrwürdigen Bibliotheken, sicher nicht das Bier, und auch ihr typischer Habit ist keine Kleidung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Selbstverständlich gab es Benediktiner schon lange vor der Moderne. Deshalb liegt diesem Buch ein umfassenderer Begriff zugrunde: Benediktiner sind all jene Frauen und Männer, die ein Leben nach der Regel Benedikts führen – eines Textes, dessen Spuren sich bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.
Nur wenige Institutionen können auf eine Geschichte zurückblicken, die anderthalb Jahrtausende zurückreicht. Für eine Vereinigung, die auf der Anerkennung gemeinsamer Normen, Werte und Leitideen gründet, ist dies eine außergewöhnlich lange Zeitspanne. Eine solche Geschichte umfasst immer konkrete Wandlungsprozesse in allen gesellschaftlichen Bereichen: nicht nur Religion, sondern auch Politik, Wirtschaft und Kultur. Für die Benediktiner reichen sie von lokalen Anfängen unter den Bedingungen der untergehenden