: Coline Serreau
: Pilgern auf Französisch Roman
: Piper Verlag
: 9783492993685
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Clara, Claude und Pierre sind entsetzt: Das Erbe ihrer Mutter wird erst ausbezahlt, wenn sich alle drei zusammen als Pilger auf den Weg nach Santiago de Compostela machen. Schlimmeres können sich die drei kaum vorstellen, denn erstens können sie sich nicht ausstehen, und zweitens ist Wandern ein Strafe für sie. Doch das Geld können alle gut gebrauchen, und so schließen sie sich widerwillig einer illustren Wandergruppe an. Der Weg nach Santiago de Compostela ist lang und die Reise dahin voller überraschender Einsichten ... Eine wunderbare, tiefsinnige Komödie über das Leben.

Coline Serreau, geboren 1947 in Paris, ist Filmemacherin und Schriftstellerin. Sie hat bei mehreren Spielfilmen Regie geführt und die Drehbücher dazu geschrieben. Der Film »Drei Männer und ein Baby«, für den sie das Drehbuch schrieb, wurde mit drei Césars ausgezeichnet und sowohl für den Oscar als auch für den Golden Globe nominiert. Ihr Film »Saint Jacques ... Pilgern auf Französisch« kam 2007 in die deutschen Kinos.

Frühmorgens am Meer. Rosiger Himmel, Schaumfransen auf dem noch dunklen Wasser, wie gestickt. Solch eine Schönheit, und keiner sieht sie.

Alle schlafen noch.

Schritte in der Ferne.

Ein Schritt nach dem anderen bewegt sich auf einen gelben Briefkasten am Strand zu. In der Ferienzeit nimmt er die Postkarten der Urlauber auf, außerhalb der Saison ist er außer Funktion, keine Post erreicht ihn. Nur heute. Die Schritte nähern sich, eine faltige, müde Hand mit Altersflecken und Krampfadern wirft drei schwarz umrandete Briefe ein, Trauerbriefe, wie man sie früher verschickt hat und die den drei Empfängern mitteilen, dass… Schwärze.

Die Schritte entfernen sich wieder.

Die Briefe liegen unten im Briefkasten und warten.

Die Stille reißt entzwei.

Nun färbt sich auch das Meer rosig, und keiner sieht es. Die Sonne dieses Tages, noch sanft, noch golden, verbirgt sich hinter Schäfchenwolken.

 

Das gelbe Postauto rast heran, bremst scharf vor dem gelben Briefkasten. Keine Zeit zu verlieren, Leute – heute Morgen gibt es viele Kästen zu leeren, und es ist nicht lustig, wenn die Post Verspätung hat.

Außerhalb der Urlaubszeit liegen nie Sendungen in diesem Kasten.

Ha, und doch! Drei Briefe. Ja, spinne ich?, fragt sich die Postbeamtin, springt flugs wieder in den kleinen gelben Renault und braust zu anderen Horizonten, anderen Postkästen, ins Briefzentrum, zu den Kollegen, ins pralle Leben eben.

Jetzt ist der Postkasten leer.

Die Briefe mit Trauerrand sind unterwegs.

 

Sie gelangen aufs Postamt der Stadt, werden in den Verteilerbach der Bezirksdirektion geschwemmt, der in den Fluss der Regionalverwaltung mündet, und der wiederum ergießt sich in den landesweiten Strom kostbarer Sendungen, die sich die Franzosen tagtäglich zuschicken…

Millionen Briefe werden versendet und Tag und Nacht zugestellt – mit dem Hochgeschwindigkeitszug, mit dem Fahrrad, dem Handkarren, in Umhängetaschen, gelben Autos, in Sortiermaschinen, Verteilern, Segeltuchtaschen, auf Treppen, in endlosen Briefkastenreihen, durch die Hände der Hauswarte…

Manche Briefe sagen: Ich liebe dich. Andere: Das bist du mir schuldig. Wieder andere sagen: Sieh mal einer an, nun ist dort jemand von uns gegangen…

 

Die Concierge bringt die Post nach oben.

Ein dicker Läufer, mit glänzenden Messingstäben auf die Stufen gedrückt, verschluckt die Geräusche. Der geschmierte Aufzugsmotor surrt, das schmiedeeiserne Gitter klappert, die verglaste, indirekt beleuchtete Aufzugswand sieht aus wie eine Natursteinmauer, die Fußmatte trägt Initialen.

Die Männer sind im Geschäft, die Kinder in der Schule, die Haushaltshilfen aus dem Mittelmeerraum bereiten köstliche Speisen zu, wobei sie angehalten sind, allzu strengen Knoblauchgeruch zu vermeiden, die Ehefrauen, umgeben von Polstermöbeln und teurem Nippes, sind damit beschäftigt, ihre Ängste zu verdrängen.

Édith trinkt.

Systematisch und ganz allein gießt sie sich ihren Schmerzstiller in den Rachen.

Ihr Blick ist trüb, sie betäubt sich.

Die Conc