: Hans Fallada
: Geschichten aus der Murkelei
: Aufbau Verlag
: 9783841217585
: 1
: CHF 10.40
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Märchen für kleine und große Kinder. Es waren die eigenen Kinder, zunächst Uli, dann Mücke und Achim, die die Geschichten des Vaters nicht nur hören, sondern auch lesen wollten. Hatte Fallada bisher Geschichten über Kinder geschrieben, so erzählte und schrieb er jetzt Geschichten für Kinder. 'Immer, wenn eine neue fertig ist', berichtete er am 28. Oktober 1933 dem Freund Kagelmacher, 'wird sie Uli vorgelesen, und es ist ihm sehr gut anzumerken, wie sie wirkt, was haftet, was verfehlt, was langweilt ...' Wie es sich für Märchen gehört, gibt es auch in diesen Geschichten die phantastischen Dinge, sprechende Tiere, Zauberer, Tarnkappen, Pechvögel, und hinter allen Turbulenzen eine handfeste Moral.



Rudolf Ditzen alias HANS FALLADA (1893 Greifswald - 1947 Berlin), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit »Der junge Goedeschal«. Der vielfach übersetzte Roman »Kleiner Mann - was nun?« (1932) macht Fallada weltbekannt. Sein letztes Buch, »Jeder stirbt für sich allein« (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).

Geschichte vom Mäusecken Wackelohr


In einem großen Stadthaus wohnte einmal eine Maus ganz allein, die hieß Wackelohr. Als Kind war sie einst von der Katze überfallen und dabei war ihr das Ohr so zerrissen worden, daß sie es nicht mehr spitzen, sondern nur noch damit wackeln konnte. Darum hieß sie Wackelohr. Und dieselbe alte böse Katze hatte ihr auch alle Brüder und Schwestern und die Eltern gemordet, deshalb wohnte sie so allein in dem großen Stadthaus.

Da war es ihr oft einsam, und sie klagte, daß sie so gerne ein anderes Mäusecken zum Spielgefährten gehabt hätte, am liebsten einen hübschen Mäuserich. Aber von dem Klagen kam keiner, und Wackelohr blieb allein.

Als nun einmal alles im Hause schlief und die böse Katze auch, saß Wackelohr in der Speisekammer, nagte an einem Stück Speck und klagte dabei wieder jämmerlich über seine große Verlassenheit. Da hörte es eine hohe Stimme, die sprach: »Hihi! Was bist du doch für ein dummes, blindes Mäusecken! Du brauchst ja nur aus dem Fenster zu schauen und siehst den hübschesten Mäuserich von der Welt! Dabei geht es ihm auch noch wie dir: Er ist ebenso allein wie du und sehnt sich herzlich nach einem Mäusefräulein.«

Wackelohr guckte hierhin, und Wackelohr guckte dorthin, Wackelohr sah auf den Speckteller und unter den Tellerrand – aber Wackelohr erblickte niemanden. Schließlich sah es zum Fenster hinaus. Drüben war nur ein anderes großes Stadthaus mit vielen Fenstern, die in der Abendsonne glitzerten, und kein Mäuserich war zu erblicken. Da war Wackelohr ungeduldig. »Wo bist denn du, die mit mir spricht? Und wo ist denn der schöne Mäusejunge, von dem du erzählst?«

»Hihi!« rief die hohe Stimme. »Bist du aber eine blinde Maus! Schau doch einmal hoch zur Decke, ich sitze ja grade über dir!«

Das Mäusecken sah hoch und, richtig!, grade über seinem Kopf saß eine große Ameise und funkelte es mit ihren Augen an. »Und wo ist der Mäuserich?« fragte das Mäusecken die große Ameise.

»Der sitzt dir grade gegenüber in der Dachrinne und läßt den Schwanz auf die Straße hängen«, sagte die Ameise.

Wackelohr sah hinaus, und wirklich saß drüben in der Dachrinne ein schöner Mäusejunge mit einem kräftigen Schnurrbart, ließ den Schwanz über die Rinne hängen und sah die Straße auf und ab. »Warum sitzt er denn da, du Ameise?« fragte Wackelohr. »Er kann doch fallen, und dann ist er tot!«

»Nun, er langweilt sich wohl auch«, antwortete die Ameise. »So hält er ein bißchen Ausschau, ob er ein Mäusecken auf der Straße sehen kann.«

Da bat Wackelohr: »Ach, liebste Ameise, sage mir doch einen Weg, wie ich zu ihm kommen kann. Ich will dir auch all meinen Speck schenken.«

Die Ameise strich sich nachdenklich ihren kräftigen Unterkiefer mit den beiden Vorderbein