Kapitel 3
»Frau Kleinschmidt, was war es denn heute wieder? Fuhr die Regiotram nicht? Mussten Sie auf den Hund Ihrer Nachbarin aufpassen? Oder gab es andere Gründe, die ein pünktliches Erscheinen unmöglich machten? Wie sehen Sie überhaupt aus?«
»Ich hatte einen Unfall. Eine Fahrradfahrerin hat mich umgefahren und nachdem meine Kleidung klitschnass war …«
»Ja, ja. Sparen Sie sich die Ausreden. Ihr Mandant wartet seit einer geschlagenen Stunde auf Sie und Sie hielten es nicht mal für nötig, kurz in der Kanzlei Bescheid zu geben. Oder ist Ihr Handy bei dem Sturz zu Bruch gegangen?«
»Das nicht, aber …«
»Papperlapapp. Sie nehmen das Ganze hier nicht ernst, Frau Kleinschmidt. Das ist keine winzige Klitsche, wie die von Ihrem Vater. Wir sind die erste Anwaltskanzlei am Ort. Hier herrschen Zucht und Ordnung. Wenn Sie weiterhin nicht in der Lage sind, auf unserem Niveau Ihre Arbeit zu verrichten, dann werden sich unsere Wege demnächst trennen müssen. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Herr Dr. Wackernagel«, antwortete ich kleinlaut, während ich damit kämpfte, mir meine Wut nicht anmerken zu lassen. Entweder hatte mein Chef bisher noch keinen Kaffee bekommen oder der Termin, der auf mich wartete, war so wichtig, dass wir uns es nicht leisten konnten, ihn zu vergraulen. Allerdings konnte ich mich dummerweise überhaupt nicht daran erinnern, dass ich ein Meeting hatte. Wer konnte das nur sein?
Dr. Wackernagel war eigentlich eher der Kategorieliebenswerter Brummbär als der Spartebissiger Löwe zuzuordnen. Ich hatte ihn noch nie in dieser Weise mit einem meiner Kollegen sprechen hören. Auch bei mir hatte er bisher immer sanfte Töne des Verständnisses angeschlagen. Was war heute nur anders?
»Worauf warten Sie denn noch? All Ihre Kollegen sind entweder vor Gericht oder in Besprechungen. Frau Runge hat sich Herrn Richards angenommen, allerdings wird unsere Sekretärin sicher nicht seine erste Wahl sein, wenn er zu uns gekommen ist, um in rechtlichen Dingen Antworten zu bekommen. Oder sehen Sie das anders?«
Mein Chef strich sich mit einem blütenweißen Stofftaschentuch, das er mühevoll aus der viel zu engen Hosentasche gezerrt hatte, über seine schweißgebadete Stirn und über die Oberlippe, von der bereits die ersten Tropfen auf den Schreibtisch vor ihm geperlt waren.
Trotz des kalten Winters saß er wie immer mit einem kurzen blauen Hemd in seinem Büro. Die Heizung war sicher aus und allein bei dem Gedanken daran begann ich erneut zu frösteln.
Sein extremes Übergewicht ließ ihn dermaßen transpirieren, dass die meisten Kollegen es im Hochsommer vermieden, länger als nötig mit ihm in einem kleinen Raum beisammenzustehen.
»Nein, natürlich nicht.«