: Christoph Fleischmann
: Nehmen ist seliger als geben Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte
: Rotpunktverlag
: 9783858698100
: 1
: CHF 11.80
:
: Politische Theorien und Ideengeschichte
: German
: 240
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In seinem neuen Buch unternimmt Christoph Fleischmann einen höchst aufschlussreichen und unterhaltsamen Gang durch die Geschichte der Tauschgerechtigkeit - von Aristoteles über die Scholastiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu Thomas Hobbes und den neoliberalen Ökonomen. Dabei stellt er viele Selbstverständlichkeiten der europäischen Moderne infrage und denkt pointiert darüber nach, wie unsere Wirtschaft wieder fairer werden könnte. Früher galt ein Handel als gerecht, wenn Waren beziehungsweise Ware und Geld gleichen Werts getauscht wurden. Und heute? Ist das neuste Smartphone wirklich 800 Euro wert? Oder das T-Shirt made in Bangladesh bloß 5? Wohl nicht. Spielt aber keine Rolle, denn seit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschafsformen im Mittelalter wird kaum noch Gleiches gegen Gleiches getauscht. Vielmehr gilt ein Handel als gerecht, wenn beide Seiten ihm freiwillig zustimmen - unabhängig davon, ob der Preis dem Wert der Ware entspricht. 'It's the economy, stupid', Angebot und Nachfrage: Der 'gerechte Preis' ist der, den wir zu zahlen bereit sind. Fleischmanns Blick geht weit zurück, aber nur, um schließlich in die Zukunft zu schweifen - auf der Suche nach einem Jenseits des Kapitalismus.

Angaben zur Person: Christoph Fleischmann, geboren 1971, hat evangelische Theologie studiert und arbeitet als freischaffender Journalist und Moderator in Köln; vor allem für den ARD-Hörfunk. Auf WDR 5 moderiert er das Religionsmagazin 'Diesseits von Eden'. Thematischer Schwerpunkt sind die Schnittmengen zwischen Religion und Wirtschaft. Zuletzt im Rotpunktverlag erschienen: 'Gewinn in alle Ewigkeit' (2010).

Vor dem Campus in Madurai verkaufte eine Frau Ananas. Sie bot ihre Ware auf einem einfachen Holzpritschenwagen an, der am Straßenrand stand. Mit anderen Studenten aus europäischen Ländern verbrachte ich ein Semester am Tamilnadu Theological Seminary in Südindien. Wir hatten gelernt, dass man von Weißgesichtern Touristenpreise verlangte; und wir hatten uns von unseren indischen Kommilitonen sagen lassen, was die Sachen, die wir kaufen wollten, für Einheimische kosteten. Mit diesem Wissen und dem Stolz, keine dummen Touristen zu sein, handelten wir die zuerst ausgerufenen Preise immer noch etwas runter – auch bei der Ananas-Verkäuferin.

Eines Abends, als ich spät zum Campus zurückkam, sah ich, dass die Frau unter ihrem Verkaufswagen schlief, auf dem Boden, in eine einfache Decke gehüllt. Sie lebte, wie viele andere Menschen in den großen Städten Indiens damals, buchstäblich am Straßenrand. Ich kam mir schlecht vor, gegenüber dieser Frau den Ananas-Preis um ein paar Rupien heruntergehandelt zu haben. Seitdem ich sie dort schlafen sah, habe ich immer lächelnd den von ihr verlangten Preis gezahlt: Die Ananas war ja immer noch billiger als bei uns im Supermarkt. Ich konnte den teureren Preis problemlos zahlen. Nicht nur beim Ananas-Kauf, sondern bei allen Käufen erlebte ich, dass ich als Student aus Europa in Indien ein reicher Mann war: Mit meinen wenigen Dollar konnte ich hier Waren und Dienstleistungen kaufen, die ich mir zu Hause nicht hätte leisten können. Alles war hier viel billiger – nicht nur die Ananas, die durch den Export nach Europa noch im Preis zulegen kann. Alles war günstiger, weil das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Indien viel geringer war als in Deutschland. Ich spürte, was die Statistik sagt: dass ich – wiewohl zu Hause ein bescheiden lebender Student – global gesehen zu den Reichen gehörte. Und dieses materielle Gefälle zwischen mir und den meisten Menschen in Indien fühlte sich ungerecht an. Warum bin ich im Wohlstand groß geworden und sie in Armut? Warum ist der Abstand zwischen mir und ihnen, hinsichtlich dessen, was wir uns an materiellen Gütern leisten können, so enorm? Das Bezahlen eines leicht überhöhten Ananas-Preises war da nur der hilflose Versuch, diese von mir empfundene Ungerechtigkeit ein klein wenig auszugleichen.

Meine Studienzeit in Indien war Mitte der Neunzigerjahre. Inzwischen verkünden diejenigen, die den Wohlstand der Nationen am Bruttoinlandsprodukt ablesen, dass gerade bevölkerungsreiche Schwellenländer wie Indien und China mächtig aufgeholt hätten. Durch wachsende Wirtschaftsleistung dort ist in den letzten Jahrzehnten die relative Ungleichheit im Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem obersten und dem untersten Zehntel der Weltbevölkerung geschrumpft: War das oberste Zehntel 1989 noch hundertmal reicher als das ärmste, so ist der Faktor bis 2006 a