Kapitel 1
Als Kind hatte ich Angst vor den Ungeheuern, die in der Dunkelheitlauerten. Doch was, wenn sich die Dunkelheit in Wahrheitvor mir fürchten musste? Zumindest mieden die Männer und Frauen, die jetzt aus den Schatten traten, meinen Blick und kamen mir keinen Schritt zu nahe. Diese Reaktion hatte ich in den letzten Wochen im Hauptquartier der Dunkelseelen öfters erlebt.
Der kühle Nachtwind wehte mir ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Trotz meiner Nervosität zitterte meine Hand nicht, als ich sie mir hinters Ohr schob. Nach außen hin wirkte ich völlig ruhig, auch wenn mein Herz so laut hämmerte, dass ich sicher war, jeder könnte es hören.
Vor uns erstreckte sich das Fabrikgelände am Rande Chicagos, das die Lichtseelen als Notfall-Stützpunkt nutzten, wie nach dem Angriff bei der Hütte im Wald. Grau und düster erhob das Gebäude sich in den Nachthimmel. Scheiben waren eingeschlagen, Efeu rankte sich an den Steinen empor und Unkraut wucherte in jeder Ecke. An den Wänden prangten Graffiti. Bunte Schmierereien, die kaum noch zu entziffern waren, weil Regen und Wind ebenfalls ihre Spuren an den Mauern hinterlassen hatten. Selbst im Licht des Mondes wirkte es verlassen – zumindest für die Dunkelseelen und Gray, der jetzt an meine Seite trat. Sein hellbraunes Haar war in den letzten Wochen länger geworden. Wie die Männer und Frauen um uns herum war er in Schwarzgekleidet, nur trug er zu seinem Langarmshirt eine Jeans, die genau wie meine eigene schon bessere Zeiten gesehen hatte. Als er den Kopf drehte und mich ansah, wirkten seine grauen Augen beinahe so dunkel wie die Wolken, die sich hin und wieder vor den Mond schoben.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte er skeptisch. Er sah wieder nach vorne und ich folgte seinem Blick.
Ich wusste, was er wahrnahm – die Illusion, die Jeff und ich damals erschaffen und mit unserem Blut hier verankert hatten. Es war eine Art Momentaufnahme des Fabrikgeländes: leer, verlassen und dunkel. In der nächsten Sekunde erkannte ich das Gebäude hinter dem Trugbild ebenso wie die Lichter im obersten Stockwerk und die Bewegungen, wenn jemand drinnen an den Fenstern vorbeiging.
»Sie sind hier«, erwiderte ich knapp. Ich konnte nur hoffen, dass auch meine Zielperson anwesend war – oder schleunigst hier auftauchen würde, damit diese ganze Aktion nicht umsonst war. »Geht durch die Illusion hindurch, dann seht ihr es.«
Gray nickte der Dunkelseele zu, die ihm am nächsten stand. Der Mann gab den anderen ein Zeichen, dann verschmolzen sie wieder mit der Finsternis. Für einen kurzen Augenblick waren Gray und ich allein.
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.
Ich presste die Lippen aufeinander und nickte, ohneihn anzusehen. Aber ich hätte wissen müssen, dass er mich besser kannte.
Behutsam legte er seine Hand an mein Gesicht unddrehte es zu sich, sodass ich seinem Blick nicht länger ausweichen konnte. »Sicher?«
Wieder ein Nicken.
»Du weißt, was du zu tun hast?«
Diesmal zwang ich mich zu einer Antwort: »Ja.«
»Gut.« Er strich mir über die Wange, dann ließ er seine Hand sinken. »Halte dich an den Plan und keiner wird verletzt. Wir wollen niemandem schaden, wir brauchen nur diese Information.«
Er hatte leicht reden, er musste ja nicht im Kopf eines anderen herumwühlen. Und trotz allen Trainingsstunden mit Lauren fiel es mir nach wie vor schwer … Sie hatte es mich wieder und wieder üben lassen, bis ich so viele Erinnerungen der Dunkelseelen gesehen hatte, dass ich mich erbrach. Sie hätte weitermachen können, mich dazu zwingen können, mit meinem Training fortzufahren. Stattdessen hatte sie mich beiseitegenommen und die fremden Erinnerungen ausmeinem Kopf gelöscht, damit ich wieder frei atmen konnte, ohne dasGefühl zu haben, an der Last der Bilder zu ersticken. Wie sie selbst mit all den Erinnerungen von anderen Leuten leben konnte, würde ich nie begreifen.
»Es ist so weit«, murmelte Gray und sah von seinem Handy auf. »Wir lenken sie ab und geben dir Rückendeckung.«
Wir waren den Plan so oft durchgegangen, bis ich ihn im Schlaf aufsagen konnte. In der Theorie war alles klar. Es war die Praxis, die mir Sorgen bereitete.
Beinahe gleich