1. KAPITEL
„Bitte, sag mir, dass das ein schlechter Witz ist, Rafael.“
Luca Castelli verheimlichte seine Verärgerung nicht, als er seinem älteren Bruder in einer der privaten Bibliotheken der Familienvilla gegenübersaß. Rafael war der Chef des Familienunternehmens, womit Luca normalerweise kein Problem hatte.
Aber an diesem Tag war überhaupt nichts normal.
„Ich wünschte, es wäre so“, antwortete Rafael, der in einem gemütlichen Sessel vor dem prasselnden Kaminfeuer saß. „Leider. Was Kathryn betrifft, haben wir keine Wahl.“ Er wirkte asketisch, fast wie ein Mönch, die markanten Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt. Das war wieder der alte Rafael, freudlos, verbittert – nicht der glückliche Rafael der letzten Jahre, der die tot geglaubte Liebe seines Lebens geheiratet hatte und inzwischen sein drittes Kind mit ihr erwartete.
Luca hasste es, dass die Trauer sie alle mit ihrer unliebsamen Vergangenheit konfrontierte. Luca hasste Trauer, Punkt.
Ihr Vater, der berühmt-berüchtigte Gianni Castelli, der aus einer Kombination von Weinanbau, Geld und Unerbittlichkeit ein mindestens zwei Kontinente umspannendes Imperium aufgebaut hatte, den die Öffentlichkeit aber eher durch sein schillerndes Eheleben kannte, war tot.
Draußen schlug der Januarregen gegen die Fenster des alten Landsitzes der Castellis. Die Villa thronte so selbstverständlich am oberen Ufer eines Bergsees in den Dolomiten Oberitaliens, wie sie es seit Generationen getan hatte. Die Wolken hingen tief und schwer über dem Wasser und verhüllten den Rest der Welt, als wollten sie auf diese Weise dem alten Mann Tribut zollen, der am selben Vormittag im Mausoleum der Castellis beigesetzt worden war.
Asche zu Asche, Staub zu Staub. Nichts würde mehr sein wie zuvor.
Rafael, der bereits seit Jahren de facto das Familienunternehmen geführt hatte, obwohl sich Gianni stets vehement geweigert hatte, seinen Platz zu räumen, war nun offiziell der Boss. Und Luca war ebenso offiziell als Geschäftsführer eingesetzt, ein Titel, der die Vielzahl seiner Aufgaben als Mitinhaber der Firma kaum erahnen ließ. Beides war längst überfällig gewesen, seit ihr Vater gesundheitlich immer mehr abgebaut hatte.
„Ich verstehe nicht, warum wir das Miststück nicht einfach ausbezahlen können wie die ganze restliche Horde seiner Exfrauen.“ Luca hörte selbst, wie unangemessen aggressiv er klang. Es fiel ihm schwer, ruhig auf dem Sofa sitzen zu bleiben, aber er wusste, wenn er erst aufstand, würde er sich nicht beherrschen können. Das konnte mit einem umgeworfenen Bücherregal oder einer zerbrochenen Glastischplatte enden – Zeichen von Kontrollverlust, den er sich nicht erlaubte, schon gar nicht vor seinem Bruder. „Überschreib ihr eine großzügige Abfindung, und schick sie in die Wüste.“
„Unser Vater hat sich in seinem Testament bezüglich Kathryn eindeutig geäußert“, erwiderte Rafael, der auch nicht glücklich darüber zu sein schien. „Und sie ist seine Witwe, nicht eine seiner geschiedenen Frauen – ein entscheidender Unterschied. Sie hat die Wahl: entweder eine Abfindung oder eine Position in der Firma. Und sie hat sich für Letzteres entschieden.“
„Das ist doch lächerlich.“
Tatsächlich war es viel mehr als bloß lächerlich, aber Luca hatte kein Wort für das, was er jedes Mal empfand, wenn die sechste und letzte Ehefrau seines Vaters auch nur erwähnt wurde.Kathryn. Die sich in diesem Moment ein Stockwerk tiefer in der großen, repräsentativen Bibliothek befand und echte Tränen über den Tod eines Ehemannes weinte, der dreimal so alt wie sie gewesen war und den sie nur aus höchst zweifelhaften Gründen geheiratet haben konnte. Als sie zusammen draußen in der Kälte gestanden hatten, hatte Luca gesehen, wie ihr die Tränen still über die Wangen rannen, als könnte sie sich vor Trauer kaum halten. Er nahm es ihr nicht ab. In seiner Familie hatte er eine Liebe, die eine solche Trauer hervorbrachte, nicht erlebt. Jedenfalls nicht bis vor Kurzem. Rafaels Glück war die erste Ausnahme seit Generationen.
„Woher sollen wir wissen, dass Vater sie nicht in London auf der Straße au