: Dieter Wunderlich
: EigenSinnige Frauen Zehn Porträts
: Piper Verlag
: 9783492968478
: 1
: CHF 8.00
:
: Zweisprachige Ausgaben
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Johanna von Orléans und Madame Pompadour, Coco Chanel, Frida Kahlo und Simone de Beauvoir - einen großen Bogen spannt Dieter Wunderlich in seinen zehn Porträts. Er erzählt von Frauen aus verschiedenen Epochen und Lebensbereichen, die nicht bereit waren, sich den gesellschaftlichen Erwartungen widerstandslos zu unterwerfen, sondern ihre ganz persönlichen Ziele verfolgten und dabei gegen heftige Widerstände kämpften.

Dieter Wunderlich, geboren 1946 in München, Diplompsychologe, war von 1973 bis 2001 im Management eines großen internationalen Unternehmens tätig. Seit 1999 hat er sich mit Büchern wie z. B. »EigenSinnige Frauen«, »WageMutige Frauen«, »AußerOrdentliche Frauen« und »Verführerische Frauen« als Autor farbiger und sorgfältig recherchierter Biografien einen Namen gemacht. Er lebt in Kelkheim am Taunus.

Johanna von Orléans


Ein Bauernmädchen glaubt unbeirrbar an seine Bestimmung und führt den König zum Sieg


Ein Bauernmädchen reitet zum König


Mit einem Gefolge von sechs Männern reitet ein siebzehnjähriges Bauernmädchen durch Lothringen. Sie wagen sich nur im Dunkeln auf den Weg, bei Tagesanbruch schlüpfen sie in abgelegene Scheunen, denn sie durchqueren ein von Engländern und Burgundern besetztes Land; und es herrscht Krieg.

Wenn sie in ein Dorf reiten, um etwas Brot und Wein zu besorgen, begegnen sie alten Männern und Frauen, die dort ausharren, obwohl sie sich kaum noch sattessen können, weil die Äcker brachliegen und auf den Wiesen nur noch vereinzelt Kühe weiden. Wer nämlich kräftig und mutig genug war, setzte sich in die vom Krieg verschonten Gebiete ab; und die Daheimgebliebenen müssen damit rechnen, daß durchziehende Soldaten ihre letzten Hühner schlachten und die Getreidefelder zertrampeln.

Johanna und die Männer frieren nicht selten in ihren feuchten Kleidern, denn im Februar 1429 regnet es häufig. Die Flüsse führen Hochwasser; Furten werden sich erst wieder im Sommer bilden, und weil sich die Flößer nicht in die reißende Strömung wagen, müssen die Reiter Brücken suchen obwohl sie dabei riskieren, entdeckt und aufgegriffen zu werden.

Trotz der Strapazen läßt das Mädchen die Männer nie ausschlafen: Johanna springt nach einer Rast stets als erste hoch und brüllt die Männer an, wenn sie nicht rasch genug aufbrechen. Woher nimmt sie die Kraft? Was treibt sie vorwärts?

Der Bauerntochter stehen ein königlicher Bote, ein Bogenschütze und zwei Edelmänner mit ihren Dienern zur Verfügung. Bevor sie sich in Vaucouleurs an der Maas auf den Weg machten, hatte der Anführer dem Stadtkommandanten schwören müssen, Johanna sicher nach Chinon zum König zu bringen. Auf ihre Begleiter ist sie angewiesen, weil sie weder die sechshundert Kilometer lange Strecke kennt noch Näheres über die Kriegslage weiß und es selbst in Friedenszeiten nicht wagen dürfte, ihr Heimatdorf ohne männlichen Schutz zu verlassen.

Ein Schäfer, an dem der Trupp vorbeireitet, nimmt nur Männer wahr, denn Johanna ist groß, schlank und schmal in den Hüften, sie schneidet ihr schwarzes Haar kurz und kleidet sich wie ein Junker: Schon von weitem fällt der wehende Umhang ins Auge. Lange Strümpfe mit Ledersohlen umhüllen die Beine. Hin und wieder faßt sie unter ihr Hemd und zupft an der kurzen Hose, einem Wäschestück, das sie erst seit wenigen Tagen trägt, denn Mädchen und Frauen haben unter den Röcken nichts an.

Selbst wenn sie sich zwischen den nach Schweiß riechenden Männern zum Schlafen ins Heu legt, wagt es keiner, sie zu berühren. Die Jungfrau bleibt zugeknöpft und begeistert sich nur, wenn sie von ihrer Sendung spricht: dem Auftrag, Frankreich zu retten.

Endlich überqueren die Reiter die Loire. Von da an brauchen sie sich nicht mehr zu verstecken, denn in diesem Gebiet halten die Territorialherren dem französischen König die Treue.

Rasch verbreiten sich Gerüchte und Nachrichten über Johanna. Mit Karl VII. will sie sprechen! Wird der König das Dorfmädchen empfangen? Was macht sie so selbstbewußt, daß sie es wagt, vor ihn hinzutreten? Eine Jungfrau will Karl VII. zur Krönung in Reims verhelfen und die Engländer aus Frankreich vertreiben! Von Gott sei sie dazu ausersehen. Gewiß, auf so ein Wunder hoffen die Franzosen. Aber weiß sie denn nicht, wieviele Frauen bereits auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, weil sie behaupteten, über besondere Kräfte zu verfügen, während Vertreter der Kirche sie für Hexen hielten?

Nach einem zehntägigen Ritt, ein paar Stunden von Chinon entfernt, diktiert die Analphabetin abends im Quartier einen Brief an den König, in dem sie ihr Kommen ankündigt und ihre Mission beschreibt. Damit schickt sie ihren Herold voraus.

Am nächsten Tag steigt sie in einem Gasthaus von Chinon ab und wartet ungeduldig auf eine Nachricht aus dem Schloß.

Der Hundertjährige Krieg


Warum hoffen die Franzosen so verzweifelt auf ein Wunder? Weil sie sich seit hundert Jahren gegen die Engländer wehren müssen: Seit das französische Königshaus der Kapetinger 1328 ausgestorben ist, machen die englischen Könige der Dynastie Valois das Erbe streitig und versuchen, ihren eigenen Anspruch auf die französische Krone mit militärischen Mitteln durchzusetzen.

Karl der Weise, der Frankreich von 1364 bis 1380 regierte, eroberte die meisten der bis dahin an die Engländer verlorenen Gebiete zurück. Aber als sich nach seinem Tod herausstellte, daß sein Sohn Karl VI. geisteskrank war, entzündete sich an der Frage, wer die Regentschaft führen sollte, ein neuer Machtkampf dieses Mal zwischen dem Herzog von Orléans, der dem Haus Valois treu blieb, und dem Herzog von Burgund, der sich mit den Engländern verbündete.

Im Oktober 1415 schlugen dreizehntausend Engländer das mehr als dreimal so große französische Ritterheer in die Flucht. Der vierundzwanzig Jahre alte Herzog Karl von Orléans, den man zunächst für tot gehalten und auf dem Schlachtfeld liegengelassen hatte, wurde gefangengenommen.1

Die Könige von England und Frankreich starben 1422 innerhalb weniger Wochen. Während die Anhänger der Valois den Dauphin Karl VII. als französischen König ausriefen, übernahm für den erst neun Monate alten englischen Thronfolger dessen Onkel Herzog Johann von Bedford die Regentschaft.

Als der geisteskranke König starb und von seinem Sohn abgelöst wurde, schöpften die Franzosen neue Hoffnung. Aber bald merkten sie, wie schwach Karl VII. war: »In seiner überängstlichen Frömmigkeit hörte er dreimal täglich die Messe und hielt jede liturgisch vorgeschriebene Andacht peinlich genau ein ... Zur Finanzierung des Krieges gegen England verpfändete er seine Juwelen und beinahe die Kleider am Leib; aber er fand keinen Gefallen am Krieg und überließ ihn Ministern und Feldherren, deren Begeisterung und Fähigkeiten im Widerspruch zu ihren Eifersüchteleien standen.«2

Mit vereinten Kräften schoben England und Burgund den Herrschaftsbereich Karls VII. auf das Territorium südwestlich der Loire zusammen; und in den besetzten Regionen widerstanden nicht mehr als zehn isolierte Orte dem Feind. Der französische König krallte sich im Tal der Loire fest, um nicht völlig den Halt zu verlieren, aber der englische Regent und der Herzog von Burgund beabsichtigten, ihm auf die Finger zu treten.

Die Stimmen


Das Reich des noch ungekrönten Königs endete im Osten an der Maas. Am westlichen Ufer des Flusses liegt Domrémy, der Ort, in dem Johanna 1412 zur Welt kam.

Sie war das dritte von vier Kindern einer Bauernfamilie. Die Mutter stammte aus einem Nachbardorf; der Vater war aus der Champagne gekommen und hatte sich in Domrémy Respekt verschafft.

Wie die anderen Mädchen des Dorfes half Johanna von klein auf beim Säen und Ernten, Füttern und Melken, Putzen und Flicken aber im Alter von dreizehn Jahren sonderte sie sich ab und entwickelte eine auffallende Frömmigkeit. Das geschah, nachdem eine Horde englischer und burgundischer Soldaten das Vieh aus Domrémy fortgetrieben, den Ort geplündert und die Kirche in Brand gesteckt hatte.

Johanna begann Stimmen zu hören.

»Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich eine Stimme von Gott, die kam, um mich zu leiten.«3 Im Garten erschien ihr der Erzengel Michael mit einer Engelschar. Sie sah auch zwei Frauen: die heilige Katharina, die Schutzpatronin eines Nachbardorfes, und die heilige Margareta, deren Statue trotz des Feuers in der Kirche von Domrémy unbeschädigt geblieben war. Anfangs fürchtete sich Johanna vor den verwirrenden Erscheinungen, aber bald freute sie sich, wenn die Heiligen zu ihr sprachen, und es gelang ihr allmählich, sie absichtlich herbeizurufen. Solange sie in Domrémy blieb, behielt sie freilich das Geheimnis für sich.

Weil Domrémy im Sommer 1428 erneut von Soldaten heimgesucht wurde, flüchtete Johannas Familie mit anderen Dorfbewohnern nach Süden in die zehn Kilometer entfernte Stadt Neufchâteau. Von dort aus sah Johanna die heimischen Felder brennen. Jeden Tag erfuhr sie Neuigkeiten über den Krieg und sie hörte, wie besorgte Leute einander fragten: »Wird Karl VII. in der Lage sein, die Engländer und die Burgunder aus Frankreich zu vertreiben?« »Aber wißt ihr schon, was man sich erzählt?« flüsterten sie sich zu: »Frankreich wurde durch eine Frau4 verraten; aber eine Jungfrau wird kommen, um das Land zu befreien.«

Als die Sechzehnjährige nach zwei Wochen mit ihrer Familie heimkehrte, forderte eine Stimme sie auf, sich nach Vaucouleurs zu begeben,...