21. April 2004
Mexikanische Grenze, CA
Trailkilometer 0
Es ist stockdunkel draußen, ich bin nervös, und mir ist schlecht. Ich sitze in einem Pick-up und bin auf dem Weg von San Diego zur mexikanischen Grenze. Im Scheinwerferlicht des Wagens erkenne ich staubige Sträucher und Büsche. In der Ferne tauchen ein paar Cholla-Kakteen auf. Von San Diego, im Süden von Kalifornien, bis nach Campo sind es knapp achtzig Kilometer auf Asphalt. Von dort rumpeln wir die letzten Kilometer bis zum Grenzzaun auf einem unbefestigten und mit Schlaglöchern übersäten Feldweg entlang. Unser Ziel ist der südliche Terminus des Pacific Crest Trails, eines Wanderweges, der auf 4277 Kilometern von Mexiko nach Kanada führt.
Zusammengepfercht sitze ich mit zwei anderen Langstreckenwanderern auf der Rückbank und werde bei jedem Schlagloch gegen einen meiner Sitznachbarn geworfen. Die staubige, trockene Luft kratzt mir im Hals, und das Gerüttel schlägt mir zusätzlich auf meinen ohnehin schon flauen Magen. Nach einer für mich sehr unruhigen Nacht sind wir bereits um 4.30 Uhr in San Diego losgefahren – ohne Frühstück.
Am Steuer unseres Wagens sitzt Robert Riess. Er ist Lehrer in San Diego, und in seiner Freizeit hilft er den Wanderern auf ihrem Weg von Mexiko nach Kanada. Heute bietet er uns einen »Shuttle-Service« zum Startpunkt des Weges an der mexikanischen Grenze. Meine Wanderkollegen könnten unterschiedlicher nicht sein. Auf dem Beifahrersitz vor mir sitzt John aus England, ein hemmungsloser Raucher. Er wirkt alles andere als sportlich und bringt mindestens zehn Kilogramm Übergewicht auf die Waage. Ganz offensichtlich hat er sich seit seinem Abflug aus London auch nicht mehr rasiert. Die beiden amerikanischen College-Kids Matt und Ben auf der Rückbank neben mir scheinen dagegen dem MagazinMen's Health entsprungen zu sein. Sie sind muskulös, haben kein Gramm Fett am Körper und sind braun gebrannt wie kalifornische Surferboys.
Wir alle wollen von Mexiko nach Kanada wandern. Erst gestern haben wir uns bei Robert kennengelernt. Oder besser gesagt an Roberts Swimmingpool, neben dem wir unser Iso-matten-Camp aufschlagen durften. Dank dieses Open-Air-Lagers konnte ich nachts den Sternenhimmel betrachten, während ich verzweifelt versuchte, etwas Schlaf zu finden.
Robert spürt meine Anspannung, und als er mein blasses Gesicht sieht, versucht er, mich zu beruhigen: »Mach dir keine Sorgen! Du hast nur Panik vor dem Trail. Das legt sich bald. Spätestens wenn du die ersten Schritte gegangen bist.«
»Im Moment habe ich das Gefühl, dass die ganze Idee mit dem Trail einfach nur bescheuert ist. Ich habe realistischerweise doch keine Chance, es von Mexiko nach Kanada zu schaffen – ich hab ja kein bisschen trainiert für den Trail«, jammere ich und bemühe mich, tief in den Bauch zu atmen, um meiner Übelkeit Herr zu werden.
Robert fährt Slalom um zwei weitere große Schlaglöcher und versucht, mich auf seine Art zu trösten: »Seit fünf Jahren fahre ich Wanderer auf den Trail. Nur ein Drittel der Leute, die hier starten, wird jemals in Kanada ankommen. Aber gerade du hast statistisch gesehen die größte Chance, es bis dorthin zu schaffen: Du bist eine Frau, und du bist allein. Solo-Frauen sind am besten vorbereitet, und vor allem müssen sie niemandem etwas beweisen.«
»Frauen sollen die besseren Langstreckenwanderer sein?«, entfährt es John ungläubig, während er fröstelnd die Heizung noch ein bisschen höher dreht. Draußen hat es jetzt kurz vor Sonnenaufgang gerade mal vier Grad Celsius. Erst tagsüber wird das Thermometer hier sicherlich auf dreißig Grad Celsius klettern.
»Die meisten Männer laufen den Trail, um sich selbst und vor allem ihrer Umgebung etwas zu beweisen. Sie wollen immer mit den anderen mithalten oder am besten noch schneller sein und hören dabei nicht auf die Signale ihres Körpers. Sie laufen zu schnell und zu viel – und müssen dann verletzungsbedingt frühzeitig abbrechen. Frauen hören auf die Signale und haben eine deutlich niedrigere Verletzungsquote«, erklärt Robert und scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein.
Darauf herrscht erstauntes Schweigen im Wagen. Wir alle müssen Roberts Ansage erst einmal verdauen. Ich nehme noch ein paar tiefe Atemzüge.
Mit einem Blick auf Matt und Ben legt Robert noch eine Schippe drauf: »Der Erfolg auf dem Trail hängt zu achtzig Prozent von mentalen Faktoren ab und nur zu zwanzig Prozent von deinem körperlichen Zustan