: Manuel Andrack
: Schritt für Schritt Wanderungen durch die Weltgeschichte
: Piper Verlag
: 9783492972918
: 1
: CHF 13.60
:
: Reiseberichte, Reiseerzählungen
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf griechischen Ziegenpfaden, in Römersandalen und auf den Spuren der Fischweiber von Paris - auf rund sechzehn Touren erlebt Manuel Andrack Wendepunkte der Weltgeschichte nach. Indem er durch das Neandertal streift, wie Martin Luther gen Rom aufbricht und bei der Erkundung der »Schwedenlöcher« die Sächsische Schweiz durchquert, beleuchtet er die Bedeutung des Wanderns und seine verschiedenen Aspekte. So zeigt er bei einer Runde um den Thunersee, wo Sepp Herberger 1954 die Taktik für den Fußball-WM-Sieg entwickelte, auch, dass Gehen das Denken beflügeln kann. Anhand unterschiedlichster Themenbereiche stellt Manuel Andrack nicht nur Landschaften und Wanderziele vor, sondern marschiert humorvoll und sachkundig durch die Geschichte.

Manuel Andrack, 1965 in Köln geboren, lebt mit seiner Familie im Saarland. Er ist Autor und Moderator beim Saarländischen Rundfunk und schreibt neben seinen erfolgreichen Büchern regelmäßig für den Stern, DIE ZEIT, GEO Special u.a. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher 'Schritt für Schritt' und 'Lebenslänglich Fußball'.

Schritt für Schritt gehen wir am Rande eines hüfthohen Roggenfelds in Groß-Schöllersheide entlang. Unsere Blicke wandern über die weite Ebene gen Osten, auf der Suche nach wilden Tieren. Wir haben großen Hunger. Plötzlich direkt neben uns ein Geräusch. Ein Reh fährt hoch, nur zwei Meter entfernt, und flüchtet. Das hätte unser Mittagessen sein können, aber das Tier ist entwischt. Wir gucken uns blöd an und denken wahrscheinlich beide dasselbe: Das wäre einem richtigen Neandertaler niemals passiert, viele Gene scheinen wir nicht von dem Steinzeitmenschen übernommen zu haben.

Ich bin mit meinem Fitnesstrainer Daniel auf den Höhen oberhalb des Neandertals unterwegs. Wir haben uns vorgenommen, einen langen Tagesmarsch zu machen: 20, 25, vielleicht auch 30 Kilometer, das Tagespensum eines Steinzeitmenschen. Gewohnt hat der Neandertaler im gleichnamigen Tal in einer Höhle. Aber gearbeitet, gejagt, die Grundlage für sein Überleben gelegt hat er in der Rheinebene und in den Höhen oberhalb des Tals. Allerdings wäre der Neandertaler etwas professioneller zu Werke gegangen als wir. Nun gut, ein Roggenfeld hätte es vor 40000 Jahren nicht gegeben, Getreide ist eine Kulturpflanze des sesshaft gewordenen Menschen. Im wogenden Steppengras des Pleistozäns wäre das Reh weithin sichtbar gewesen. Aber unsere Fehlerliste ist enorm:

Erstens wären die Neandertaler nicht zu zweit, sondern in einer großen Gruppe von ungefähr 15 Leuten unterwegs gewesen. Alle mussten mithelfen, Frauen, Kinder; manchmal hat eine andere Sippe mitgeholfen, ein Tier zu jagen.

Zweitens hätten wir schon auf dem Weg zum Roggenfeld aufmerksamer sein können. Wie Fährtenleser hätten wir nach niedergedrücktem Gras, abgebrochenen Ästen und frischer Losung suchen müssen. Die Neandertaler hatten so was drauf.

Drittens hätten wir einen Plan haben müssen. Wohin wollen wir das Tier treiben, wenn wir es gefunden haben, damit es nicht flüchten kann? In einen Sumpf oder in eine tiefe Grube, die wir natürlich vorher hätten ausheben müssen?

Viertens sind wir dilettantisch ohne Waffen auf die Jagd gegangen, das wäre unseren Vorfahren vor 40000 Jahren nun überhaupt nicht eingefallen. Man hätte im Vorfeld wenigstens mal einen kleinen Wurfspeer basteln können, damit hätten wir das Reh vielleicht sogar erwischen können. Na ja, hätte, hätte, Fahrradkette. Wahrscheinlich müssen wir unseren Hunger also doch im Supermarkt bekämpfen. Wenigstens wollen wir dort nur Nahrungsmittel kaufen, die der Steinzeitnahrung entsprechen. So halbwegs.

Um zehn Uhr morgens bin ich mit Daniel am Neanderthal Museum angekommen. Ich möchte Daniel aus unterschiedlichen Gründen auf einen Neandertaler-Memorial-Marsch mitnehmen. Zum Ersten ist er als Fitnesstrainer so durchtrainiert, wie ich mir einen durchschnittlichen Steinzeitmenschen vorstelle. Zum Zweiten kennt er sich hervorragend mit Diäten aus, vor allem mit der berühmt-berüchtigten Paleo-Diät, weiß also ungefähr, was unsere Vorfahren jeden Tag gegessen haben. Und zum Dritten ist seine Optik zurzeit großartig. Ich brauche einen richtigen Mann an meiner Seite, einen Mann mit Bart. Denn hat man je einen glatt rasierten Neandertaler gesehen? Teil unserer Versuchsordnung ist es, keinen Proviant mitzuschleppen. Für eine »normale« Wanderung ist es immer vernünftig, ausreichend Wasser und eine Kleinigkeit zum Essen mitzunehmen, Rucksackverpflegung nennt man das. Es gibt unter