: Bernhard C. Schär
: Tropenliebe Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900
: Campus Verlag
: 9783593430591
: Globalgeschichte
: 1
: CHF 40.50
:
: Kulturgeschichte
: German
: 374
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
»Tropenliebe« erzählt die Geschichte von Paul und Fritz Sarasin, zweier reicher Patriziersöhne und Naturforscher aus Basel. Die Großvettern reisten um 1900 durch die asiatischen Kolonien Großbritanniens und der Niederlande, um auf tropischen Inseln fernab ihrer beengten Heimat Raum für ihre Liebe zueinanderzufinden. Zugleich verfolgten sie große wissenschaftliche Projekte: Bei ihrer Rückkehr brachten sie Hunderttausende Pflanzen, Tiere und ethnografische Objekte mit nach Basel, wo sie das »Völkerkundemuseum« gründeten. In Indonesien halfen sie den Niederländern, Celebes (heute Sulawesi), eine der größten Inseln ihres Kolonialreichs, zu erobern. In Deutschland feierte man sie als Pioniere der »Rassenforschung«. Die Geschichte von Liebe und Gewalt in Südostasien wirft ein neues Licht auf die deutsche und niederländische Kolonialgeschichte sowie auf jene der Schweiz, die lange dachte, dass sie gar keine hätte.

Bernhard C. Schär ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte der Modernen Welt an der ETH Zürich.
Einleitung
'Tropenliebe'. Mit diesem Wort sind zwei Dinge gemeint. Zum einen geht es um eine Liebe in den Tropen. Es handelt sich um die Liebe zwischen den beiden Basler Vettern und Patriziersöhnen Paul und Fritz Sarasin. Sie wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Gesellschaft geboren, die Liebe zwischen Männern als krankhaft und unchristlich betrachtete. Um ihre Liebe zu leben, investierten die beiden Freunde ihren geerbten Reichtum in eine Karriere als wissenschaftliche Tropenreisende. Diese führte sie für mehrere Jahre nach Ceylon (das heutige Sri Lanka) und Celebes (das heutige Sulawesi in Indonesien). Fernab der Zwänge ihrer Heimat fanden sie dort Raum zur Entfaltung ihrer Liebe. Zugleich erwarben sie mit der Erforschung dieser Inseln große internationale Anerkennung. 1896 kehrten sie als Stars in die Schweiz zurück, wo sie alsbald zu den einflussreichsten Naturwissenschaftlern des Landes aufstiegen.
Die Geschichte der Sarasins handelt aber auch von einer Liebe für die Tropen. 'Die ganze Umgebung ... ist wunderbar schön', schrieb beispielsweise Fritz Sarasin im Sommer 1893 aus Celebes an seine Mutter nach Basel: 'eine Vegetation, wie wir sie kaum je gesehen haben, prachtvolle Ausblicke auf die See und auf die riesigen waldbedeckten Vulkane.' Eine besondere Freude bereiteten den Sarasins die Menschen (nicht zuletzt die Knaben) im 'Herzen der tropischen Urwälder'. Diese seien von der 'Cultur' noch völlig unberührt, 'nackt, monogam, naiv und unschuldig, ohne bestimmte Religionsform, ohne ?Erkenntnis des Guten und Bösen?, also ohne höhere Einsichten, ohne Ackerbau, ... sich mühelos von den Früchten der Bäume nährend'.
Die Liebe für tropische Naturobjekte und für 'Naturvölker', die in diesen Zitaten zum Ausdruck kommt, war tief verankert in der europäischen Kulturgeschichte. Mit dem Begriff der Tropen wurde seit dem späten 18. Jahrhundert alles Exotische, Wilde, Ursprüngliche und Üppige bezeichnet, das dem Vertrauten, Geordneten, Zivilisierten und Gemäßigten, kurz: dem Europäischen, entgegengesetzt schien. Der Historiker David Arnold spricht davon, dass die europäische Eroberung der Welt ab dem 18. Jahrhundert zu einer 'Tropikalisierung' der Amerikas, Afrikas und Asiens in der europäischen Fantasie beigetragen habe. In diesem Sinne war die Liebe für die Tropen eine zutiefst ambivalente und zerstörerische Liebe.
So brachten die Sarasins allein aus Celebes mehr als 1000 Tiere und Pflanzen sowie rund 680 ethnografische Objekte und etwa 600 Fotografien nach Basel zurück. In Ceylon jagten sie trächtige Elefantenkühe in der Absicht, embryologische Studien an deren ungeborenem Nachwuchs vorzunehmen. Neben einer unbekannten Anzahl von Naturobjekten brachten sie auch 84 menschliche Schädel und weitere Skelettteile nach Basel zurück, die sie zu großen Teilen aus den Gräbern der Gesellschaften vor Ort entwendet hatten. Um an diese Objekte zu gelangen, die heute in den Sammlungen des Naturhistorischen und des Museums der Kulturen in Basel aufbewahrt werden, waren die Sarasins auf Unterstützung der Kolonialmacht angewiesen.
In Celebes stellte diese den Baslern Träger und Führer zur Verfügung. Über ein halbes Dutzend von ihnen bezahlte die Teilnahme an den äußerst anstrengenden Expeditionen mit dem Leben. Die Expeditionen führten durch das Hochland der Insel, das um 1900 noch nicht kolonisiert war. Die Forschungsreisen der Sarasins, die von einem niederländischen Kolonialbeamten begleitet wurden, gaben den niederländischen Kolonialbehörden erstmals Einblick in Territorien, die ihnen bis dahin verschlossen waren. So legten die wissenschaftlichen Expeditionen in Celebes den Grundstein für die militärische Invasion der Insel. Ab 1905 drang die niederländische Kolonialarmee ins Hochland vor. Dort traf sie auf mehrheitlich mit Speeren und Kurzschwertern bewaffnete Widerstandskämpfer. Während sich der Widerstand gegen die Invasion dieser schwer zugänglichen Insel, die rund doppelt so groß wie die Niederlande und die Schweiz zusammen ist, insgesamt über drei Jahre zog, dauerten die einzelnen Gefechte nur kurz. Die Kämpfer aus Celebes starben zu Hunderten im Sperrfeuer niederländischer Artillerie und Infanterie. Die Niederländer verzeichneten dagegen nur minimale Verluste. Die militärischen Gräueltaten und die darauf folgende Unterwerfung der Insel bedeuteten das Ende einer 'wilden ursprünglichen Kultur', wie Fritz Sarasin Jahre später den Untergang der autonomen Gesellschaften auf Celebes kommentierte.
In den vielen Hundert Seiten, die die Sarasins nach ihrer Rückkehr in die Schweiz über Celebes schreiben sollten, äußerten sie sich kaum über die niederländischen Gewaltakte. Eine 'Reihe nicht unblutiger Kriege' ist die kritischste Formulierung, die sich in den Quellen findet. Zu ihrer eigenen Involvierung in diese Gewaltakte sowie zum zerstörerischen Charakter ihrer Sammlungstätigkeit überhaupt äußerten sie sich nie. Vielleicht können jedoch ihre Karrieren in der Schweiz als stummes Eingeständnis einer verdrängten Teilverantwortung für diese Geschehnisse gedeutet werden. Gemeinsam bzw. einzeln übernahmen die Sarasins ab den späten 1890er Jahren die Leitung des Basler Naturhistorischen Museums. Sie gründeten das Basler Völkerkundemuseum (das heutige Museum der Kulturen), Fritz Sarasin präsidierte unter anderem den Basler Zoo und die Naturforschende Gesellschaft der Schweiz (die heutige Akademie der Naturwissenschaften). Paul Sarasin gründete den Nationalpark in der Südostschweiz und wurde zu einem der international führenden Aktivisten der frühen Naturschutzbewegung. Mit diesen Institutionen stemmten sich die Sarasins und ihre Mitstreiter gegen die 'unerstättliche[.] Geld- und Ländergier' des 'weissen Menschen', wie Fritz Sarasin 1917 in Basel anlässlich der feierlichen Eröffnung des neuen Völkerkundemuseums ausführte:
Unaufhaltsam legt sich die europäische Maschinenkultur wie ein Tod bringendes Netz über den Erdball und erstickt in seinen unentrinnbaren Maschen alles ursprüngliche Völkerleben. Und vor allem sind es eben die Naturvölker, die diesem Ansturm zuerst erliegen, [...] Vielfach verschwinden sogar bei der Berührung mit den Weissen nicht nur die primitiven Kulturen, sondern auch ihre Träger selbst vom Schauplatz des Lebens.
Die tiefe Ambivalenz dieser Äußerungen liegt darin, dass die Sarasins auf ihren Reisen selbst zu jenen 'weissen Menschen' zählten, die das 'Tod bringende Netz' mit sich brachten. Gewiss: Die militärische Gewalt der Niederländer auf Celebes war von den Sarasins mit ihren Forschungsreisen nicht beabsichtigt worden. Dennoch war sie eine Folge davon. Ohne sich dessen vollends bewusst zu sein und ohne es zu wollen, hatten die Sarasins mitgeholfen, das zu zerstören, was sie am meisten liebten: die 'wilde Natur' und die vermeintlich 'primitive Kultur' der sogenannten Naturvölker.
Die zahlreichen Institutionen, welche die Sarasins nach ihrer Rückkehr in die Schweiz gründeten und prägten, können folglich als die stummen Zeugen der ambivalenten und zerstörerischen Tropenliebe ihrer Gründer und führenden Vertreter gesehen werden. Die unheilvolle Schattenseite der (Gründungs-)Geschichte dieser Institutionen ist jedoch bei den folgenden Generationen schnell in Vergessenheit geraten. Heute sind sie aus dem historischen Bewusstsein inner- und außerhalb dieser Institutionen gänzlich verschwunden.
Ein wesentliches Ziel dieser Studie ist es folglich, die in Vergessenheit geratene Geschichte der sarasinschen Tropenliebe zu rekonstruieren, zu deuten und so in ihrer Ambivalenz dem gesellschaftlichen Bewusstsein wieder zugänglich zu machen. Im Zentrum stehen die Reisen der Sarasins auf der Insel Celebes zwischen 1893 und 1896 sowie in den Jahren 1902 und 1903.
Wie kamen zwei Naturforscher aus einem europäischen Land ohne Kolonien und ohne imperiale Ambitionen dazu, sich in koloniale Gewaltakte in Südostasien zu verstricken? Und welche Einsichten lassen sich daraus für die Zeit um 1900 gewinnen?
Die Antworten auf diese Fragen werfen ein neues Licht auf verschiedene Themen der Geschichtsforschung, die allzu lange unverbunden blieben und separat behandelt worden waren: die Geschichte Basels und der Schweiz, die Geschichte des (niederländischen) Kolonialismus, die Geschichte der deutschsprachigen Rassen- und Naturwissenschaften und die Geschichte des europäischen Bürgertums. Um die Verbindungen zwischen diesen Themen sichtbar zu machen, adaptiere ich einige analytische Konzepte aus den Sozial- und Geschichtswissenschaften, die ich weiter unten erläutere. Diese erlauben es mir, den Sarasins auf einigen Etappen ihrer Laufbahn durch die Zeit und durch den Raum zu folgen. Mein analytisches Hauptinteresse gilt dabei nicht der Biografie der beiden Protagonisten. Die beiden dienen mir vielmehr als Analyseinstrument. Indem ich die historischen Hintergründe ihrer Herkunft aus Basel ausleuchte und sowohl die wissenschaftlichen und politischen Netzwerke, die sie im Verlauf ihrer Karriere knüpften, als auch die wissenschaftlichen Debatten rekonstuiere, die zu ihrer Zeit über Celebes geführt wurden, kann ich einige grenzüberschreitende Verflechtungs- und Austauschprozesse freilegen, die in der historischen Forschung üblicherweise nicht gesehen werden.
Es handelt sich um Verflechtungen und Austauschprozesse, die wesentliche Teile des deutsch- und niederländischsprachigen Europas mit den historischen Erfahrungen von Gesellschaften in Südostasien verbanden. Damit sind mehrere Implikationen verbunden: Zum einen wird auf europäischer Seite eine transnationale Gemeinschaft von Südostasienforschenden beleuchtet, die sich vorwiegend in deutscher Sprache verständigen konnte, jedoch in unterschiedlichen Nationen beheimatet war: in der Schweiz, in Deutschland, in den Niederlanden sowie punktuell in Österreich, Großbritannien und Frankreich. Zum anderen
Inhalt6
Einleitung8
Basel globalisieren39
1.Die »Geistesehe«: Paul und Fritz Sarasin43
2. Seide, Sklaven und Soziale Frage: Basel im imperialen Raum62
3.Vernetzte Naturforscher: Vögel und Schädel aus aller Welt79
4. »Sehnsucht nach dem Heiligen«: Naturforscher und 79
10479
Fazit126
Feldforschung an der Frontier127
5. In der Peripherie: Fragile Machtverhältnisse auf Celebes129
6. »Speerspitzen der Zivilisation«: Expedition und 129
141129
7. »Ausländische Forscher«: Zwei Arten von 129
184129
Fazit194
Rätselhaftes Celebes196
8. Das Celebes-Problem und der wissenschaftliche Wettstreit um die »Lösung«198
9.Auf der Suche nach dem »Ursprung des Menschen«: Deutschsprachige Rassenforscher in Südasien224
10. »Reisen in Celebes«: Eine Übung in Selbst- und Fremddisziplinierung242
11. Macht und Erotik: Zugriffe auf den Körper 242
263242
12. Eigenartige Begegnungen: Das Wissen der »Eingeborenen«277
Fazit296
»Tropische Schweiz«298
13.Globale Visionen und Nationale Institutionen: 298
301298
Fazit326
Europa pluralisieren: Schlussbetrachtung330
Danksagung338
Abkürzungsverzeichnis341
Quellen und Literatur342
Personenregister374