: Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Christoph Schönberger
: Das entgrenzte Gericht Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht
: Suhrkamp
: 9783518768006
: 1
: CHF 25.00
:
: Öffentliches Recht, Verwaltungs-, Verfassungsprozessrecht
: German
: 420
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Während die Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien zunimmt, bleibt die Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts ungebrochen. Urteile wie zum Lissabon-Vertrag, zur Onlinedurchsuchung oder zur Höhe der Hartz-IV-Sätze werfen jedoch die Frage auf, inwiefern die Karlsruher Richter bisweilen die Grenzen ihrer institutionellen Zuständigkeit überschreiten. Anläßlich des 60. Jahrestags der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts unternehmen vier renommierte Juristen daher den Versuch einer wissenschaftlichen Kritik an Deutschlands beliebtestem Verfassungsorgan.

<p>Matthias Jestaedt, geboren 1961, lehrtÖffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Oliver Lepsius, geboren 1964, lehrtÖffentliches Recht und Staatslehre an der Universität Bayreuth. Christoph Möllers, geboren 1969, lehrtÖffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der edition suhrkamp erschien zuletzt<em>Der vermisste Leviathan</em>(es 2545). Christoph Schönberger, geboren 1966, lehrtÖffentliches Recht an der Universität Konstanz.</p>

Matthias Jestaedt
Phänomen Bundesverfassungsgericht Was das Gericht zu dem macht, was es ist


A. Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten


Kaum eine zweite Institution ist für das freiheitlich-demokratische Deutschland, welches sich aus den Trümmern desNS-Regimes erhoben hat, so prägend und so kennzeichnend wie das Bundesverfassungsgericht. Wer sich ein verlässliches Bild davon machen möchte, wie die Uhren im Nachkriegsdeutschland gehen, kann dies nicht ohne einen eingehenden Blick auf das Wirken des Gerichts im Karlsruher Schlossbezirk. Manche meinen– wohl etwas augenzwinkernd– gar, dass statt von der Bonner respektive der Berliner Republik von der Karlsruher Republik zu sprechen sei. Auch Ernst-Wolfgang Böckenfördes besorgte Diagnose, dass sich ein»gleitenderÜbergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsvollziehenden Jurisdiktionsstaat« (Böckenförde 1981: 402) vollzogen habe, darf als Ausdruck der ganz außerordentlichen Stellung und Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts in der grundgesetzlichen Ordnung verstanden werden. Schließlich dokumentieren die regelmäßigen Spitzenwerte des Gerichts auf der Beliebtheitsskala in derÖffentlichkeit dessen singuläre Position (Vorländer/Brodocz 2006).

Die heutige Fraglosigkeit dieser Erfolgsgeschichte darf indes nicht den Sinn dafür trüben, dass es sich dabei keineswegs von Anfang an um einen Selbstläufer, um eine zwangsläufige, normativ zwingende Entwicklung gehandelt hat. Ganz im Gegenteil. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht zu Unrecht als»verspätetes Verfassungsorgan« (Schiffers 1984:VII) bezeichnet worden, nahm es doch erst ein halbes Jahr nach Verabschiedung des Gesetzesüber das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) vom 12. März 1951, näm lich am 7. September 1951, seine Spruchtätigkeit auf– und damit zwei Jahre nach der Konstituierung oder Wahl der anderen Bundesverfassungsorgane (Bundestag: 14. August 1949/ 7. September 1949, Bundesrat: 7. September 1949, Bundespräsident: 12. September 1949, Bundeskanzler: 15. September 1949, Bundeskabinett: 20. September 1949). Die Stammfassung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 schwieg sichüber einige der heute zentralen Charakteristika sowohl des Anspruchs als auch der operativen Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts aus, sei es, weil der Parlamentarische Rat die Entscheidung dem einfachen Gesetzgeber (oder der Selbstorganisation des Gerichts) bewusstüberantworten wollte, sei es, weil die künftigen Herausforderungen und Entwicklungen schlicht unabsehbar waren. So war, um vier ganz unterschiedliche Aspekte beispielhaft zu nennen, die Frage nach dem Status des Gerichts als Verfassungsorgan durch das Grundgesetz nicht geklärt worden;43) die so charakteristische Ausgestaltung als Zwillingsgericht– ein Gericht mit zwei gleichberechtigten Senaten, die jeweils als»das Bundesverfassungsgericht« judizieren– ordnete ebenso erst dasBVerfGG an; auch die Verfahrensart, die den richterlichen Arbeitsaufwand und den Ruf des Bundesverfassungsgerichts wie keine zweite prägt, nämlich die Verfassungsbeschwerde, ist erst 1951 einfachgesetzlich eingeführt und sogar erst 1969 ins Grundgesetz aufgenommen worden; als Reaktionen auf die steigende Arbeitslast sind erst nach und nach die aus drei Richtern bestehenden Kammern (früher: Vorprüfungsausschüsse) und ein entsprechendes Annahmeverfahren, in dem weit mehr als 90 Prozent s&a