: Oskar Hartwieg
: Stephan Meder
: Sachverhaltsarbeit als Steuerungsinstrument im Zivilprozeß Ein entscheidungstheoretischer Versuch
: Vandenhoeck& Ruprecht Unipress
: 9783862340903
: Beiträge zu Grundfragen des Rechts.
: 1
: CHF 60.50
:
: Recht
: German
: 272
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Das Verhältnis zwischen Fall und Norm ist eine Grundfrage der modernen Rechtswissenschaft. Oskar Hartwieg begreift Fall und Norm als veränderliche Größen, die nicht einfach zu trennen sind und bei der juristischen Entscheidungsfindung aneinander angeglichen werden müssen. Ihn interessiert vor allem, wie die Arbeit des Richters am Sachverhalt theoretisch zu erfassen ist. Dabei kritisiert er die vorherrschende »normative Sicht«, die den Willen des Gesetzgebers zum allgemeinen Maßstab erklärt. Hartwieg möchte gar nicht anzweifeln, daß sich die Tätigkeit des Juristen vornehmlich auf Rechtstexte bezieht, sei es auf das mehr oder weniger abstrakt formulierte einzelne Gesetz oder auf dessen Wechselwirkungen mit anderen Normen. Doch ist die Jurisprudenz mehr als eine lediglich textgebundene Wissenschaft. Dies zeigt schon das Wort »Sachverhalt«, welches der »Sache ihr eigenes Verhalten« zubilligt (Gadamer) und dadurch eine eigentümliche Distanz zwischen der Sprache und den Dingen zum Ausdruck bringt. Es ist eben jene Distanz, der Hartwiegs Forschungsinteresse gilt und die in aktuellen rechtstheoretischen Diskussionen wieder eine wichtige Rolle spielt.

Prof. Dr. Oskar Hartwieg (1936-2001) studierte Rechtswissenschaften in München und Hamburg, war Wissenschaftlicher Assistent bei Josef Esser in Tübingen und lehrte seit 1976 als Professor für Zivilprozessrecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover.
"II. Phasen zivilrichterlicher Entscheidungstätigkeit (S. 176-177)

Lautmann unterscheidet fünf Phasen richterlicher Tätigkeit: Problemstellung, Sammlung von Alternativen und Fakten, Bewertung der Alternativen, Festlegung der Alternative, Ausführen und Darstellen der Entscheidung. Diese Auffächerung benutzt Lautmann für eine inhaltliche Beschreibung der Informationsverarbeitung von Fakten und Normen bei der richterlichen Tätigkeit. Die beiden folgenden Unterabschnitte (II., III.) verfolgen dagegen das Ziel, unter zeitlichen und kausalen Gesichtspunkten richterliche Tätigkeit zu gliedern; die inhaltliche Beschreibung wird sich später anschließen. Das Lautmann’sche Modell ist demnach an dieser Stelle nur bedingt als Vorbild geeignet.

Die zeitlichen Unterteilungen in den Untersuchungen von Baumgärtel und Blankenburg sind für diese Studie zu weit. Sie betreffen nämlich den gesamten zivilprozessualen Zeitablauf einschließlich aller Entscheidungsarten und führen damit zu Kategorien, die für die hier allein interessierende Erledigungsart eines Prozesses durch streitiges Urteil keine weiteren Aussagen mehr enthalten. Der Vorentwurf einer Untersuchung zur Analyse des Entscheidungsverhaltens von Juristen553 ist zu allgemein, um als aussagefähiges Phasenmodell für die Fälle zivilrichterlichen Handelns dienen zu können, die durch streitiges Urteil erledigt werden.

Es muß daher im folgenden der Versuch gemacht werden, aus den bisher dargestellten Ansätzen ein eigenes Modell zu entwerfen. Dieses Modell ist ausdrücklich nur für die Fälle richterlicher Prozeßerledigung durch streitiges Urteil angelegt. Seine Aussagefähigkeit für andere Erledigungen, wie z. B. Vergleich, Erledigung der Hauptsache, Anerkenntnis, Verzicht, z. T. auch Versäumnisurteil oder Ruhen des Verfahrens ist sicherlich beschränkt, andererseits aber nicht ganz unerheblich, denn selbst wenn nur gut ein Drittel aller normalen Zivilprozesse vor dem Landgericht mit einem streitigen Urteil zugeschnittene Verfahrens- und Verhaltensmodell die ultima ratio darstellt, vor der sich alle anderen Versuche abspielen, den Prozeß anders, z. B. für Richter weniger arbeitsaufwendig oder für die Parteien weniger kontrovers (etwa durch Vergleich) zu beenden.

Die drei bereits genannten Phasen von Entscheidungsverhalten (Suchverhalten vor der Entscheidung = Phase 1, Entschluß = Phase 2, Suchverhalten nach der Entscheidung = Phase 3) bilden einschließlich ihrer entscheidungstheoretisch herausgestellten Nichtfestlegbarkeit der Phasenfolge den Ausgangspunkt für die folgende Phaseneinteilung."
Inhalt7
Einleitung des Herausgebers. Fall und Norm im Kontext von Entscheidungstheorie und Hermeneutik. Zu Oskar Hartwiegs Versuch über » Sachverhaltsarbeit als Steuerungselement im Zivilprozeß«11
I. Vorbemerkung11
II. Das Ungenügen der »normativen Sicht« als Ausgangspunkt13
III. »Deskriptive Entscheidungstheorie«18
IV. Ansätze zu einer Theorie der Sachverhaltsarbeit20
V. Schlußbemerkung23
Einleitung25
1. Teil: Die Sachverhaltsarbeit des Zivilrichters aus juristischer Sicht31
I. Ausgangspositionen33
1. Ergebnisgestaltung durch Arbeit am Recht33
2. Ergebnisgestaltung durch Arbeit am Sachverhalt34
3. Der Begründungszwang des Urteils35
II. Zivilprozessualer Ansatz40
1. Der Zweck des Zivilprozesses40
2. Verfahrensprinzipien43
3. Sachverhalt und Tatbestand52
4. Zusammenfassung65
III. Relationstechnik67
1. Selbstverständnis der Relationstechnik68
2. Richterliche Prozeßstrategie71
3. Der Tatbestand als Ergebnis von Reduktionen77
4. Zusammenfassung85
IV. Methodologischer Ansatz87
1. Die Lehre von der Rechtsanwendung aufgrund feststehenden Sachverhalts90
2. Die Lehre vom hin- und herpendelnden Blick93
3. Integrierte Norm- und Faktenermittlung106
4. Zusammenfassung: der Dogmatik-Streit112
2. Teil: Entscheidungstheoretische Erweiterung des Problems115
I. Wissenschaftstheoretische Orientierung117
1. Vorbemerkung117
2. Zur Ebene der Wissenschaftstheorie119
3. Systemtheorie, Wissenssoziologie und Entscheidungstheorie als Ansätze für eine Theorie der Sachverhaltsarbeit125
II. Deskriptive Entscheidungstheorie135
1. Grundmodelle und ihre Elemente135
2. Offenes Entscheidungsverhalten139
3. Informationsverarbeitung154
3. Teil: Deskriptive Entscheidungstheorie richterlicher Sachverhaltsarbeit175
I. Aufgabe und Personenbezogenheit179
II. Phasen zivilrichterlicher Entscheidungstätigkeit186
III. Denkrichtungen richterlicher Informationsverarbeitung197
1. Prozeßrecht als Orientierungsgröße in Routine-Situationen und bei algorithmischem Verhalten198
2. Relationstechnik als juristischer Algorithmus206
3. Die Denkrichtung als Aspekt juristischer Methodenlehre213
4. Zusammenfassung224
IV. Konstruktion229
1. Routineverhalten als Rahmen für algorithmische Konstruktion231
2. Inhaltliche Bestimmung algorithmischen Verhaltens233
3. Verfahrenssteuerungen der Konstruktion253
4. Zusammenfassung: Darstellung der Ergebnisse als Routinelösungen259
Literaturverzeichnis265